Entscheidungsstichwort (Thema)

Recht zum gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD für einen Unionsbürger zur Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung. Freizügigkeitsbescheinigungen. Verstellung der Ausländerbehörde zur Ausreisepflicht. Arbeitssuche. Einstweilige Anordnung. Folgenabwägung

 

Orientierungssatz

1. Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung ist nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB 2 u. a. , dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der BRD hat.

2. Dieses Tatbestandsmerkmal kann bei einem Unionsbürger nicht mit der Begründung verneint werden, dass er auch sechs Monate nach seiner Einreise keine Stellung gefunden und nicht nachgewiesen hat, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht. Auch ohne Erfolgsaussicht der Arbeitsuche kann der Unionsbürger sein Recht zum Aufenthalt in der BRD aus § 2 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ableiten. Das FreizügG/EU sieht einen Verlust des Aufenthaltsrechts nach der Vorschrift des § 6 FreizügG/EU allein dann vor, wenn die zum Vollzug des Gesetzes zuständige Ausländer-Behörde eine entsprechende Feststellung trifft. Den mit Fragen sozialrechtlicher Leistungsansprüche befassten Behörden oder Gerichten steht nach dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gewaltenteilungsprinzip ein von der Ausländerbehörde losgelöstes eigenes Recht, den Verlust des Aufenthaltsrechts festzustellen, nicht zu, vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, S. 2 Nr. 2, § 20; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, §§ 5-6; VO (EG) 883/2004 Art. 2 Abs. 1, Art. 4; SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Tenor

Bezüglich des Zeitraumes vom 06.05. bis zum 31.08.2013 wird festgestellt, dass sich der Rechtsstreit erledigt hat. Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.04.2013 zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.

 

Gründe

I.

Die 1977 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste am 01.05.2011 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie ist im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/ EU). Die Antragstellerin hat eine am 00.00.1997 geborene Tochter, die bei den Großeltern in Polen lebt und für die sie Kindergeld von der Familienkasse L bezieht.

Der Antragsgegner bewilligte der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), dies zuletzt mit Bescheid vom 13.07.2012 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 07.08.2012 für den Zeitraum vom 01.08.2012 bis zum 31.01.2013. Einen am 13.08.2012 für den Zeitraum ab 01.09.2012 erteilten Aufhebungsbescheid hob der Antragsgegner auf den Widerspruch der Antragstellerin wieder auf (Bescheid vom 15.10.2012).

Mit Schreiben ebenfalls vom 15.10.2012 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin dazu an, dass er beabsichtige, die Leistungen ab 01.11.2012 einzustellen. Mit Bescheid vom 26.10.2012 hob er den "Bescheid vom 12.07.2012" auf und nahm die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen ab dem 01.11.2012 gem. § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ganz zurück. Die Antragstellerin könne keine Leistungen beanspruchen, weil sie "lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland" habe. Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Antragstellerin vom 29.11.2012 wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2013 als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin am 11.02.2013 Klage zum Sozialgericht Duisburg (SG) zum Aktenzeichen S 35 AS 598/13 erhoben.

Am 05.03.2013 hat die Antragstellerin parallel dazu einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem SG gestellt und zunächst beantragt, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2013 anzuordnen. Mit Schreiben vom 21.03.2013 hat sie diesen Antrag in solchen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) umgestellt und nunmehr Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, hilfsweise als Darlehen, beantragt.

Einen Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin vom 19.03.2013 hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 02.04.2013 ebenfalls unter Hinweis auf die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II abgelehnt. Über den hiergegen gerichteten Widerspruch der Antragstellerin ist soweit ersichtlich noch nicht entschieden.

Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 16.04.2013 verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 05.03.2013 bis zum 31.08.2013, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 228,00 Euro monatlich zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin habe...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge