Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach bewiesenem Arbeitsverhältnis - Ermessensausübung bei Aufhebung der Bewilligung
Orientierungssatz
1. Ein Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 greift dann nicht, wenn die betreffende Person über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG oder über ein materielles Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügt.
2. Ist das geltend gemachte Arbeitsverhältnis echt, wird ein monatliches Entgelt von 520,- €. gezahlt und ist es nicht gekündigt, so besteht Anspruch auf Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung.
3. Im Übrigen ist bei der Aufhebung der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung nach § 45 Abs. 1 SGB 10 Ermessen auszuüben. Sind nur die gesetzlichen Voraussetzungen abstrakt benannt, fehlt aber eine konkrete Ermessensausübung, so ist der ergangene Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufzuheben.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 06.06.2023 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13.03.2023 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 02.03.2023 wird angeordnet.
Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller im erstinstanzlichen Verfahren und im Beschwerdeverfahren zu erstatten. Eine weitere Kostenerstattung findet nicht statt.
Gründe
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs i.S.v. § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG gegen den Bescheid vom 02.03.2023, mit dem der Antragsgegner die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.04.2023 nach § 45 SGB X aufgehoben hat.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13.03.2023 gegen den Aufhebungsbescheid vom 02.03.2023 anzuordnen, abgelehnt.
Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen - wie hier gemäß § 39 Nr. 1 SGB II - Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da § 39 Nr. 1 SGB II das Vollzugsrisiko bei Bescheiden, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben bzw. zurückzunehmen, grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Maßgebend ist, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 14.02.2022 - L 7 AS 1828/21 B ER; vom 30.08.2018 - L 7 AS 1097/18 B ER und vom 02.03.2017 - L 7 AS 57/17 B ER; Keller, in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 12f ff. m.w.N.).
Hier geht die Interessenabwägung nach den vorstehenden Maßgaben zugunsten der Antragsteller aus. Nach summarischer Prüfung spricht mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 02.03.2023, der in Anbetracht der Vertretungsregelung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II sämtlichen Antragstellern bekanntgegeben worden ist.
Die in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme des Bescheides vom 24.02.2023 ist § 45 SGB X. Hiernach darf ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2), oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte...