Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des dauerhaft voll erwerbsgeminderten Hilfebedürftigen auf Leistungen des SGB 12 auch während des Aufenthalts in einer Werkstatt für behinderte Menschen

 

Orientierungssatz

1. Nach § 41 Abs. 3a SGB 12 sind zu Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung leistungsberechtigt auch Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, für den Zeitraum, in dem sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen oder bei einem anderen Leistungsanbieter das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich durchlaufen.

2. Solange der hilfesuchende Mensch in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt ist, ist von einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung auszugehen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 08.07.2021; Aktenzeichen B 8 SO 97/20 B)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12.09.2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Der am 00.00.1997 geborene Kläger leidet u.a. an einer Intelligenzminderung. Ihm sind mit Bescheid des Rhein-Erft-Kreises vom 05.07.2016 ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie die Merkzeichen "G" und "B" zuerkannt worden. Ferner besteht bei ihm der Pflegegrad 2. Er lebt in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter und deren Lebenspartner. Der leibliche Vater zahlt für den Kläger seit September 2017 keinen Unterhalt mehr. Mit Beschluss des Amtsgerichts Bergheim (73 XVII 19/17) vom 16.05.2017 ist die Frau K A zur Betreuerin des Klägers bestellt worden.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meldete den Kläger zum 01.09.2017 für eine Maßnahme im Eingangsverfahren/Berufsbildungsbereich bei einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) an. Zum 01.09.2017 wurde der Kläger im Eingangsverfahren der S GmbH in Bergheim aufgenommen. Mit Bescheid vom 26.07.2017 gewährte die BA dem Kläger ab 01.09.2017 ein Ausbildungsgeld in Höhe von monatlich 67 Euro (bis 31.08.2018) bzw. 80 Euro (bis 30.11.2019).

Der Kläger beantragte am 14.03.2018 bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII. Er gab an, nach Abschluss der Förderschule seit September 2017 in der S GmbH im Ausbildungsbereich tätig zu sein. Einkünfte seien i.H.v. monatlich 67 Euro (Ausbildungsgeld) vorhanden; Vermögen bestehe nicht. Der Kläger legte u.a. einen Befundbericht der Klinik Bonn, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie II über eine Intelligenztestung vom 10.10.2016 vor.

Mit Bescheid vom 17.07.2018 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, da aufgrund einer fehlenden dauerhaften vollen Erwerbsminderung kein Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII bestehe. Zwar sei er im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM voll erwerbsgemindert, nicht aber dauerhaft, was sich aus § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII ergebe. Die Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung könne erst nach Beendigung der beruflichen Bildungsmaßnahme zum 01.12.2019 festgestellt werden. Als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II sei der Kläger entsprechend antragsberechtigt (Sozialgeld, § 23 SGB II) und hierauf zu verweisen. Dagegen legte der Kläger am 23.07.2018 Widerspruch ein und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass sich das Vorliegen dauerhafter voller Erwerbsminderung aus dem Umstand ergebe, dass bei ihm aufgrund seiner Intelligenzminderung Werkstattnotwendigkeit festgestellt worden sei. Für die von der Beklagten vorgenommene Differenzierung zwischen dem Arbeitsbereich einer WfbM und deren Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich fehle es an einer Rechtfertigung. Ebenso wie bei Menschen im Arbeitsbereich einer WfbM sei auch bei Personen im Eingangsverfahren bzw. Berufsbildungsbereich eine dauerhafte voller Erwerbsminderung zu unterstellen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.09.2019 wies der Rhein-Erft-Kreis den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Die Feststellung, dass der Kläger dauerhaft voll erwerbsgemindert sei, sei bislang nicht getroffen worden und müsse es auch nicht. Bis zur Feststellung einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung bestehe kein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, was sich aus § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII i.V.m. den aktuellen Weisungen des BMAS zur Durchführung des SGB XII aus Juli und November 2017 ergebe.

Der Kläger hat am 02.10.2018 Klage bei dem Sozialgericht Köln erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er vertiefend vorgetragen: Eine im Oktober 2016 durchgeführte Intelligenzdiagnostik habe einen Gesamt-IQ von 47 ergeben, so dass er im Bereich einer mittelgradigen Intelligenzminderung einzustufen sei. Aufgrund der festgestellten Intelligenzminderung könne nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich sein werde, auf dem ersten Arbeitsmarkt ein...

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