Leitsatz (redaktionell)

1. Eine form- und fristgerecht erhobene Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss des Sozialgerichts ist auch dann zulässig, wenn das Sozialgericht die Aussetzung zur Durchführung des Vorverfahrens angeordnet hat, ohne dass der Kläger die Aussetzung beantragt hat.

2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung liegen nicht vor, wenn die Auslegung der Klage als Widerspruch gegen einen Leistungsbescheid nach dem SGB II weder dem erklärten noch dem mutmaßlichen Willen des Klägers entspricht.

3. Eine Aussetzung ist ermessensfehlerhaft, wenn das Sozialgericht nicht von einer Ermessensentscheidung ausgeht und nicht berücksichtigt, dass nach Auffassung des Klägers bereits ein Vorverfahren durchgeführt worden ist. Dabei dürfen die Erklärungen des Klägers nicht gegen seinen ausdrücklich erklärten Willen ausgelegt werden, auch wenn dies bei objektiver Betrachtung für ihn nachteilig wäre.

 

Normenkette

SGG § 114 Abs. 2, §§ 123, 106 Abs. 1

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Aussetzungsbeschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 23.06.2022 aufgehoben.

 

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde des Klägers vom 07.07.2022 gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 23.06.2022, mit dem das Sozialgericht "das Verfahren bis zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides ausgesetzt hat", ist auch im Übrigen zulässig. Grundsätzlich erfolgt die erstinstanzliche Aussetzung durch einen mit der Beschwerde anfechtbaren Beschluss. Insbesondere handelt es sich bei einer Aussetzung um keine bloße prozessleitende Verfügung i.S.v. § 172 Abs. 2 SGG (vgl. zur allgemeinen Meinung etwa Haupt/Wehrhahn in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 114 SGG, Rn. 14; Guttenberger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 114 SGG ≪Stand: 15.06.2022≫,Rn. 52; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020,§ 114 Rn. 9; Loytved, jurisPR-SozR 5/2022 Anm. 5 m.w.N. zur Rechtsprechung und Literatur). Es fehlt auch nicht deshalb das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil das Sozialgericht in entsprechender Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG (vgl. dazu Keller, a.a.O., § 114 Rn. 4a-5 m.w.N. zur höchstrichterlichen Rechtsprechung) zur Durchführung des Vorverfahrens gemäß § 78 SGG ausgesetzt hat. Insbesondere fehlt es nicht an einer Beschwer des Klägers, der die Aussetzung zur Durchführung des Vorverfahrens nicht beantragt hat (so aber Bayerisches LSG, Beschluss vom 31.07.2017 -L 4 KR 25/17 B -, Rn. 10, juris mit der Begründung, die Anordnung der Aussetzung des Verfahrens erfolge in solchen Fällen zugunsten des Klägers). Vielmehr muss dem Kläger insbesondere die Möglichkeit eröffnet sein (Art. 19 Abs. 4 GG), sich im Wege der Beschwerde gegen die aus seiner Sicht das Verfahren verzögernde Aussetzung etwa mit dem Argument zur Wehr zu setzen, er habe keinen Widerspruch eingelegt bzw. einlegen wollen, weil ein Vorverfahren seiner rechtlichen Überzeugung nach nicht (mehr) erforderlich sei (vgl. au ch die Anmerkung von T. Lange, jurisPR-SozR 1/2018 Anm. 2 zu Bayerisches LSG, Beschluss vom 31.07.2017 a.a.O.; vgl. zur Statthaftigkeit der Beschwerde in dieser Konstellation auch Keller, a.a.O., § 114 Rn. 5 m.w.N.).

Die Beschwerde ist auch begründet. Gemäß § 114 Abs. 2 SGG kann das das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist (Satz 1). Auf Antrag kann das Gericht die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist (Satz 2). Der Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts bei Aussetzungsbeschlüssen ist umstritten (vgl. zuletzt die eingehende Darstellung von Loytved, jurisPR-SozR 5/2022 Anm. 5). Nach der vorzugswürdigen Auffassung sind nach allgemeinen Grundsätzen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 114 SGG ebenso zu prüfen wie die Ermessensausübung (Keller a.a.O. § 114 Rn. 9; Leopold in: Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 2. Aufl. 2021, § 114 Rn. 154; Guttenberger, a.a.O., § 114 Rn. 53).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung liegen nicht vor. Jedenfalls erweist sich die Aussetzung als ermessensfehlerhaft. Das Sozialgericht hat die am 01.04.2022 als "Prüfungs-/Feststellungs-/Leistungsklage gegen die Stadt N" erhobene Klage als Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.03.2022 ausgelegt und sodann zur Begründung des angefochtenen Aussetzungsbeschlusses ausgeführt, die auf § 114 Abs. 2 SGG analog gestützte Aussetzung diene der Nachholung des notwendigen Vorverfahrens. Selbst wenn man die Auffassung teilt, dass in der Klageerhebung zugleich auch die Einlegung eines bisher nicht eingelegten Widerspruchs zu erblicken ist (BSG, Urteil vom 18.02.1964 - 11/1 RA 90/61 - BSGE 20...

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