Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherungsleistungen. Ausländer. Aufenthaltsrecht
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
2. Ein Daueraufenthaltsrecht setzt nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU voraus, dass der Betreffende sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
3. Ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht im Anschluss an die selbständige Tätigkeit nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU setzt voraus, dass die Tätigkeit mehr als ein Jahr gedauert hat.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG §§ 2, 4a
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 12.1.2022 geändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten des Antragstellers sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt M aus E beigeordnet.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem SGB II.
Der am 00.00.1976 geborene Antragsteller ist rumänischer Staatsangehöriger. Seine Familie lebt in Rumänien.
Der Antragsteller lebte ausweislich einer Auskunft der Stadt O bis zum 13.9.2016 in C, verzog dann nach Rumänien und lebte sodann vom 20.11.2017 bis zum 22.6.2018 in O. Von dort sei er nach E in die N-Straße verzogen. Nach einer Auskunft der Stadt E zog der Antragsteller erst am 19.2.2019 in die N-Straße in E. Seitdem sei er unter verschiedenen Anschriften in E gemeldet.
Zum 9.4.2019 meldete der Antragsteller in E ein Gewerbe als Estrichleger an. Zum 22.3.2021 meldete er das Gewerbe wieder ab und stellte am 18.5.2021 beim Antragsgegner einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Er sei im April 2019 nach Deutschland eingereist und habe eine selbständige Tätigkeit ausgeübt, von der er habe leben können. Nach Abmeldung des Gewerbes habe er seinen Lebensunterhalt durch Privatdarlehen von Freunden sichergestellt. Er habe weder Einkommen noch Vermögen und verfüge über kein Konto. Am 2.7.2021 stellte er einen Insolvenzantrag. Der Antragsgegner forderte vom Antragsteller wiederholt die Vorlage verschiedener Unterlagen, u.a. zur zwischenzeitlichen Selbständigkeit.
Am 4.11.2021 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dortmund einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er habe in den letzten sechs Monaten seiner selbständigen Tätigkeit keinen Gewinn erzielt und diese daher beenden müssen. Er habe keine Aufträge mehr erhalten. Er könne keine Unterlagen zu seiner früheren selbständigen Tätigkeit vorlegen. Er habe ca. 40.000 EUR Schulden. Erst im Dezember 2021 habe er ein Konto eröffnet. Der Antragsteller hat eine eidesstattliche Versicherung und eine Erklärung eines Herrn S über rückzahlbare Unterstützungszahlungen für Juni-September 2021 vorgelegt.
Der Antragsgegner hat vorgetragen, der Antragsteller habe einen Termin zur persönlichen Vorsprache am 6.10.2021 nicht wahrgenommen. Es sei unklar, ob der Antragsteller wirklich selbständig tätig gewesen sei und ggf. in welchem Umfang. Soweit in § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU an eine einjährige selbständige Tätigkeit angeknüpft werde, reiche die bloße Anmeldung eines Gewerbes nicht aus. Es müsse sich um eine tatsächliche Tätigkeit von wirtschaftlicher Bedeutung handeln. Soweit in dieser Norm außerdem eine unfreiwillige Einstellung der Tätigkeit vorausgesetzt werde, sei eine entsprechende Bescheinigung der Agentur für Arbeit erforderlich. Der Antragsgegner hat eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit E vom 15.12.2021 vorgelegt. Darin heißt es, der Antragsteller habe auf eine Aufforderung der Agentur für Arbeit zur Vorlage von Unterlagen nicht reagiert, weswegen davon ausgegangen werde, dass die Beendigung seiner selbständigen Tätigkeit selbst verschuldet sei.
Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 12.1.2022 zur vorläufigen Gewährung von SGB II Leistungen für den Zeitraum vom 4.1.2021 bis 31.3.2022 verpflichtet und ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Antragsteller erfülle die persönlichen Voraussetzungen von Leistungen nach dem SGB II. Er verfüge weder über Einkommen noch Vermögen. Er erfülle nach seinem Vortrag bzw. nach den Daten von Gewerbean- und -abmeldung auch die Voraussetzungen eines nachwirkenden Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU. Weitergehende Ermittlungen seien insofern dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Dies gelte ebenso für die Frage, ob der Antragsgegner an die Bescheinigung der Agentur für Arbeit gebunden sei. Da die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen seien, sei eine Folgenabwägung vorzunehmen, die wegen des existenzsichernden Charakters der im Streit stehenden Grundsicherungsleistungen zugunsten des Antragstellers ausfalle.
Der Antragsgegner hat gegen den ihm am 13.1.2022 zugestellten Beschluss am 07.2.2022 Beschwerde ...