Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen der Grundsicherung für das schulpflichtige Kind eines aufenthaltsberechtigten Unionsbürgers. Aufenthaltsrecht des sorgeberechtigten Elternteils
Orientierungssatz
1. Nach Art. 10 EUV 492/2011 können Kinder des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Daraus folgt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des schulpflichtigen bzw. auszubildenden Kindes.
2. Ein monatlicher Verdienst von 160.- €. aufgrund unbefristeter Beschäftigung ist für die Begründung des Arbeitnehmerstatus ausreichend.
3. Während des Besuchs einer allgemeinbildenden Schule ist zur Begründung und Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts aus Art. 10 EUV 492/2011 erforderlich, dass das Kind in das Schulsystem des Mitgliedstaats eingegliedert ist (BSG Urteil vom 3. 12. 2015, B 4 AS 43/15 R).
4. Aufgrund des Aufenthaltsrechts des minderjährigen Kindes kann der sorgeberechtigte Elternteil ebenfalls aus Art. 10 EUV 392/2011 ein Aufenthaltsrecht ableiten, wenn er die elterliche Sorge tatsächlich ausübt (EuGH Urteil vom 6. 10. 2020, C-181/19).
5. Ist der volljährige Unionsbürger nach Beendigung eines befristeten Arbeitsverhältnisses auf Arbeitsuche, so bleibt nach § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG das Recht zur Freizügigkeit bei unfreiwilliger durch die Arbeitsagentur bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten unberührt.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 19.08.2021 wird geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig ab dem 04.12.2020, dem Antragsteller zu 6) bis zum 26.02.2021, dem Antragsteller zu 2) bis zum 06.04.2021 und den übrigen Antragstellern bis zum Abschluss der Hauptsache, längstens bis zum 31.03.2022, laufende Leistungen in Form des Regelbedarfs nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu 1), 3), 4) und 5) für beide Rechtszüge dem Grunde nach, die der Antragsteller zu 2) und 6) zur Hälfte.
Den Antragstellern wird für beide Rechtszüge Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwaltes M aus Essen bewilligt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin zu 1) ist die Mutter der Antragsteller zu 2) bis 6) (geboren am 00.00.1998, 00.00.2006, 00.00.2011, 00.00.2014 und 00.00.2003). Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige.
Nach eigenen Angaben reisten sie, gemeinsam mit dem Ehemann der Antragstellerin zu 1), zugleich der Vater der Antragsteller zu 2) bis 6), im März 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Sie wohnen seit März 2020 in einer Mietwohnung. Die Bruttokaltmiete beträgt 947 EUR monatlich (Grundmiete 698 EUR, Betriebskosten 249 EUR). Es bestehen Mietrückstände von mehreren tausend Euro (im Juli 2020 über 6.000 EUR). Eine Kündigung des Mietverhältnisses liegt bislang nicht vor.
Der Ehemann der Antragstellerin zu 1) ging in der Zeit vom 01.05.2019 bis zur fristlosen Kündigung am 10.07.2019 einer geringfügigen Beschäftigung bei der I GmbH und vom 19.09.2019 bis 10.02.2020 einer Beschäftigung bei der Firma E nach. Aus der letztgenannten Beschäftigung erzielte er monatliche Bruttoverdienste von 377,98 EUR, 433,12 EUR, 269,36 EUR, 148,51 EUR und 177,18 EUR bei Zugrundelegung des jeweils geltenden Mindestlohnes. Im Februar 2020 erfolgte keine Vergütung. Das Arbeitsverhältnis wurde arbeitgeberseitig in der Probezeit gekündigt, weil der Ehemann der Antragstellerin zu 1) unregelmäßig zur Arbeit erschienen sei. Ende Mai oder im Juni 2020 zog er aus der gemeinsamen Unterkunft mit seiner Familie aus und ist seither obdachlos. Nach Angaben der Antragstellerin zu 1) übt er weiterhin die elterliche Sorge für die Antragsteller zu 2) bis 6) aus.
Der Antragsteller zu 2) ging in der Zeit vom 07.04.2020 bis ins Frühjahr 2021 einer geringfügigen Beschäftigung als Lageraushilfe bei der Firma E nach. Der befristete Arbeitsvertrag endete am 06.04.2021. Vereinbart war der Mindestlohn bei einem Einsatz nach Absprache mit dem Vorgesetzten. Eine Bescheinigung der Bundesagentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit besitzt der Antragsteller zu 2) nicht. Nach eigenem Vortrag beendete er die Tätigkeit eigenständig, eine Kündigung sei nicht erstellt worden, er sei nicht mehr zur Arbeit gegangen. Es möge daher davon ausgegangen werden, dass die Arbeitslosigkeit nicht unfreiwillig gewesen sei.
Die Antragstellerin zu 1) bezieht seit März 2021 für drei ihrer Kinder Kindergeld in Höhe von insgesamt 663 EUR monatlich (zuvor im Dezember 2020 853 EUR, im ...