Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Anspruch eines lebensbedrohlich Erkrankten auf Versorgung mit einem nicht zugelassenen Fertigarzneimittel
Orientierungssatz
1. Von der Genehmigungsfiktion nach § 13 Absatz 3?a SGB 5 werden nur solche Leistungen erfasst, die ein Versicherter für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegen.
2. Mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit sind Fertigarzneimittel nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Für das in den USA zugelassene Gentherapeutikum Zolgensma liegt bisher weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Europäischen Union eine Arzneimittelzulassung vor.
3. Die Versorgung mit einem nicht zugelassenen Import-Fertigarzneimittel kann bei Bestehen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung gerechtfertigt sein, wenn für sie eine anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und mit diesem eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf möglich erscheint (Anschluss an BVerfG vom 6.12.2005 = 1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5).
4. Für die Behandlung eines an spinaler Muskelatrophie leidenden Kindes steht in der Bundesrepublik Deutschland das zugelassene Medikament Spinraza zur Verfügung. Zolgensma ist in den USA nur für die Behandlung in den ersten zwei Lebensjahren zugelassen. Bei älteren Kindern entfaltet es keine ausreichende Wirkung.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 20.02.2020 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist ein Anspruch des Antragstellers (Ast) auf Versorgung mit dem in Deutschland und EU-weit bislang nicht zugelassenen Importarzneimittel Zolgensma® (Onasemnogene Abeparvovec-xioi). Die Verabreichung erfolgt in Form einer Injektion im Wert von rund 2 Millionen Euro.
Es handelt sich hierbei um ein Gentherapeutikum, das bisher in den USA seit Mai 2019 für die Anwendung innerhalb der ersten zwei Lebensjahre zugelassen ist. Das Zulassungsverfahren in Europa ist noch nicht abgeschlossen. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) hat laut Pressemitteilung vom 27.03.2020 der für die Zulassung in der EU zuständigen EMA (European Medicines Agency) die Zulassung empfohlen; eine entsprechende Entscheidung der EMA liegt noch nicht vor.
Der am 00.00.2017 geborene Ast leidet seit seiner Geburt an Spinaler Muskelatrophie (SMA) Typ I. Diese schwere infantile Form der Erkrankung beginnt in der Regel vor dem 6. Lebensmonat (gewöhnlich vor dem 3.), basiert auf einem Gendefekt und ist gekennzeichnet durch schwere und progrediente Muskelschwäche und -hypotonie als Folge einer Degeneration bzw des Verlustes der unteren Motoneurone im Rückenmark und im Kern des Hirnstammes; die Prognose ist in der Regel ungünstig. Der Ast wird aktuell mit dem in Deutschland zugelassenen Medikament Spinraza® (Wirkstoff Nusinersen) behandelt.
Am 30.10.2019 beantragte der Ast bei der Antragsgegnerin (Ag) die Versorgung mit Zolgensma®. Mit dem Medikament Spinraza® lasse sich sein Leiden ein wenig lindern, der Tod jedoch bestenfalls um einige Monate hinauszögern. Die einzige Chance auf Rettung oder sogar Heilung biete eine Therapie mit Zolgensma® des Herstellers Novartis. Es könne nicht länger gewartet werden, da die Behandlung so früh wie möglich durchgeführt werden müsse. Hierzu reichte er auf Anregung der Ag zwei Arztbriefe des St. G- Hospitals, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums der Universität B vom 15.07.2019 und 30.08.2019 ein, aus welchen sich im Wesentlichen nur die Diagnose SMA Typ I sowie Laborbefunde und die Durchführung einer Pneumokokkenimpfung am 29.08.2019 ergeben.
Die Ag unterrichtete den Ast mit an seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt gerichteten Schreiben vom 30.10.2019 und 04.11.2019 darüber, dass sie eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einholen werde und damit verpflichtet sei, binnen 5 Wochen zu entscheiden.
Der MDK kam mit Gutachten vom 05.11.2019 zunächst zu dem Ergebnis, eine Kostenübernahme komme nicht in Betracht. Zwar sei die Erkrankung bei Beginn im frühen Kindesalter grundsätzlich schwerwiegend beziehungsweise lebensbedrohlich. Der Verlauf im Einzelfall sei aber nicht hinreichend dokumentiert. Eine Indikationsstellung und ein begründeter Kostenübernahmeantrag der behandelnden Ärzte, insbesondere unter Bezugnahme auf zugelassene Therapien liege bislang nicht vor.
Die Ag holte hierzu Befunde und Auskünfte der den Ast behandelnden Ärzte des St. G-Hospitals, Dr. L und Prof. Dr. M ein, die insbesondere ausführten, der Ast sei seit dem 13.03.2018, zunächst im Rahmen eines Luftwegsinfekts mit Belüftungsstörung der Lunge, in Behandlung der Kinderklinik. Zunäch...