Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen bei illegaler Beschäftigung. Lohnsummenbescheid. Verletzung der Aufzeichnungspflicht. Schwarzlohn. Schätzung. Fiktive Nettolohnvereinbarung. Feststellungen des Hauptzollamtes. Bedingter Vorsatz. Verjährung. Säumniszuschläge. Unbillige Härte. Glaubhaftmachung drohender Insolvenz
Orientierungssatz
1. Hat der Arbeitgeber seine Aufzeichnungspflicht nach § 28 f Abs. 1 SGB 4 nicht ordnungsgemäß erfüllt und kann dadurch die Beitragspflicht oder die -höhe nicht festgestellt werden, so kann der Rentenversicherungsträger unter den in Abs. 3 genannten Voraussetzungen den Gesamtsozialversicherungsbeitrag schätzen.
2. Eine entgeltgeringfügige Beschäftigung i. S. von § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB 4 führt zwar zur grundsätzlichen Versicherungsfreiheit in den jeweiligen Zweigen der Sozialversicherung. Für den Arbeitgeber besteht aber die Pflicht zur Abführung pauschaler Sozialversicherungsbeiträge in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, §§ 249b S. 1, SGB 5, 172 Abs. 3 S. 1 SGB 6.
3. Ist nach § 14 Abs. 2 S. 1 SGB 4 ein Nettoarbeitsentgelt vereinbart, so gelten als Arbeitsentgelt die Einnahmen des Beschäftigten einschließlich der darauf entfallenden Steuern und der seinem gesetzlichen Anteil entsprechenden Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung. Demgegenüber gilt nach Abs. 2 bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart.
Normenkette
SGB IV § 28f Abs. 1-2, § 14 Abs. 2, § 28e Abs. 1, § 28p Abs. 1 Sätze 1, 5, §§ 24, 25 Abs. 1 S. 2; SGG § 86a Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 2, § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichtes Dortmund vom 13.11.2014 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 142.582,07 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die 1946 geborene Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 12.9.2014 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 5.9.2014, mit dem diese von ihr eine Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für die Zeit vom 1.1.2002 bis zum 30.9.2012 in Höhe von 570.328,30 Euro einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 235.381,50 Euro fordert.
Sie betreibt seit dem Jahr 2001 einen mobilen Einzelhandel mit Fisch, Meeresfrüchten und Fischerzeugnissen. Sie verkauft unter Einsatz von sechs - auf ihren Namen angemeldeten - Verkaufswagen Fisch und Fischbrötchen auf Märkten und Festen. Sie übernahm diesen Betrieb von ihrem Ehemann - Herrn N S -, nachdem dieser nach einer Betriebs- und Steuerfahndungsprüfung erhebliche Steuerrückstände nicht beglichen hatte (Gewerbeabmeldung v. 31.3.2001). Er übertrug zu diesem Zweck den Fuhrpark und das weitere bewegliche Anlagevermögen auf die Antragstellerin, die zuvor bei ihm als Verkaufs- und Reinigungskraft tätig gewesen war. Das Betriebsgelände einschließlich Wohngebäude wurde auf den Sohn, Herrn C S, und die Tochter, Frau S S, übertragen, die es der Antragstellerin zur Nutzung unentgeltlich überließen. Die Antragstellerin beschäftigte zudem ihren Sohn als festangestellten Arbeitnehmer. Daneben waren von September bis Oktober 2007 Frau K L und für die Monate Dezember 2009 bis Februar 2010 Frau Q L festangestellt. Ansonsten sollen - was zwischen den Beteiligten streitig ist - im Wesentlichen Aushilfen beschäftigt worden sein.
Bei der Antragstellerin fand ab Oktober 2012 eine Lohnsteueraußenprüfung statt, die den Zeitraum Januar 2002 bis September 2012 umfasste. Im Zuge dessen wurde festgestellt, dass Lohnzahlungen nicht ordnungsmäßig aufgezeichnet worden waren. So wiesen Stundenaufzeichnungen Arbeitszeiten von weniger als eine Stunde je Tag auf. Zudem stimmten die Arbeitszeiten in den Aufzeichnungen nicht mit im Rahmen der Prüfung vorgelegten weiteren Unterlagen (Fahrtenbücher, Quittungen, etc.) überein. Ferner sagten verschiedene Mitarbeiter der Antragstellerin in Zeugenvernehmungen aus, Schwarzlohnzahlungen erhalten zu haben (z.B. Aussagen von E T, J N, K T und Q L). Das zuständige Finanzamt (FA) M führte daraufhin eine Stundenkalkulation durch, wobei es sich um ein einheitliches Kalkulationsverfahren für den Prüfungszeitraum handelte, in welchem es stets die gleichen Stundenlöhne erfasste. Für 2002 erfolgte die Schätzung anhand der Unterlagen für 2003. Das FA erließ zunächst einen Haftungsbescheid in Höhe von insgesamt 59.453,98 Euro. In diesem waren die betrieblichen Schwarzlohnzahlungen für den Zeitraum Januar 2006 bis September 2012 nicht erfasst, da das FA davon ausging, dass diese Zahlungen im Rahmen einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zwischen Antragstellerin und ihrem Sohn, C S, zu erfassen seien. Nachdem das Finanzgericht (FG) Münster in einem Beschluss vom 2.9.2013 (7 V 2358/13 G, U, F) zu der Auffassung gelangt war, eine Familien-GbR liege nicht vor, änderte das FA den Bescheid gegenüber der Antragstellerin ab und forderte nunmehr 121.564,71 Euro (Haftungsb...