Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Grundsicherungsleistungen durch einstweiligen Rechtsschutz bei nicht ausgeräumten Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers

 

Orientierungssatz

1. Bestehen seitens des Grundsicherungsträgers Zweifel an der Erwerbsfähigkeit desjenigen, der Grundsicherungsleistungen beantragt, so ist, wenn dieser zu einem Untersuchungstermin nicht erscheint, das im Gesetz nach § 32 SGB 2 vorgesehene Verfahren durchzuführen. Danach ist bei Nichterscheinen das Arbeitslosengeld 2 um 10 % zu mindern bzw. bei Erscheinen, aber bei Weigerung der ärztlichen Untersuchung, zu prüfen und zu entscheiden, ob auch dann eine Sanktion nach § 32 SGB 2 verhängt wird oder nach §§ 60, 66 SGB 1 vorzugehen ist.

2. Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers nicht abschließend geklärt, so bleiben die noch nicht ausgeräumten Zweifel hinsichtlich der Hilfebedürftigkeit der Klärung in einem Klageverfahren vorbehalten. Bei nicht abschließender Aufklärung der Sach- und Rechtslage ist wegen des existenzsichernden Charakters der Grundsicherungsleistungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 28.03.2012 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller in der Zeit vom 27.01.2012 bis 31.07.2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe der jeweiligen Regelbedarfe nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu 1/2. Dem Antragsteller wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ab Antragstellung Prozesskostenhilfe gewährt.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist im tenorierten Umfang begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, Seite 927).

Der Antragsteller hat nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung vorläufig einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) und zwar in Höhe des Regelbedarfs nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen. Diesbezüglich hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II sind glaubhaft gemacht. Denn der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs.1 Nr. 2 SGB II und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Dabei verkennt der Senat nicht, dass Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers bestehen. Der Antragsgegner konnte jedoch die Anträge des Antragstellers nicht mit Bescheiden vom 01.06.2011 und vom 29.09.2011 wegen Nichterscheinens zu dem Untersuchungstermin im Oktober 2010 und der Notwendigkeit der Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs nach den Folgeanträgen von März und September 2011 verbunden mit dem Hinweis an den Antragsteller, zur Veranlassung eines Untersuchungstermins vorzusprechen, ablehnen. Vielmehr ist das im Gesetz vorgesehene Verfahren nach § 32 SGB II durchzuführen (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.02.2009 - L 5 B 376/08 AS ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 02.08.2011 - L 3 AS 130/11 B ER; SG Ulm, Beschluss vom 15.08.2008 - S 10 AS 2799/08 AS ER) und bei Nichterscheinen das Arbeitslosengeld II um 10 % zu mindern bzw. bei Erscheinen, aber Weigerung der ärztlichen Untersuchung zu prüfen und entscheiden, ob auch dann eine Sanktion nach § 32 SGB II verhängt wird oder nach §§ 60, 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch Sozialgesetz...

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