Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Aussetzung eines Verfahrens. Vorgreiflichkeit. Sozialhilferecht. Nachranggrundsatz. keine Zahlung der vorrangigen Leistung. vorläufige Einstandspflicht des Sozialhilfeträgers
Orientierungssatz
1. Vorgreiflichkeit iS des § 114 Abs 2 S 1 SGG liegt vor, wenn die Entscheidung des Gerichts vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, und ist nur dann zu bejahen, wenn das angerufene Gericht gehindert ist, über eine Vorfrage selbst zu entscheiden.
2. Für den Fall, dass eine vorrangige Leistung tatsächlich (noch) nicht gezahlt werden kann, sieht § 2 Abs 1 SGB 12 eine primäre Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers vor, der ggf Erstattungsansprüche nach §§ 103 ff SGB 10 gegen den endgültig verpflichteten Leistungsträger geltend machen kann.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 12.09.2017 aufgehoben.
Gründe
I.
Die Klägerin wendet sich gegen einen Aussetzungsbeschluss des Sozialgerichts Münster. In der Hauptsache begehrt sie Leistungen der Hilfe zur Pflege in Einrichtungen.
Die 1926 geborene Klägerin beantragte bei dem Beklagten am 05.07.2016 Pflegewohngeld zur Finanzierung ihres Heimplatzes im N-stift St. N in E. Zuvor hatte sie Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege durch ihre Pflegekasse (AOK NordWest) erhalten. Den Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 29.09.2016 ab, weil die Klägerin neben Guthaben auf ihrem Giro- sowie ihrem Sparkonto (945,40 EUR bzw. 9.563,89 EUR) über zwei Bestattungsvorsorgeverträge mit einem Wert von 7.000,00 EUR bzw. 3.500,00 EUR verfüge. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch (Schreiben vom 24.10.2016). Nachdem die Klägerin ihr Guthaben auf dem Sparkonto verbraucht hatte, bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 26.01.2017 Pflegewohngeld ab 01.01.2017.
Am 20.12.2016 beantragte die Klägerin zusätzlich Leistungen der Hilfe zur Pflege. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 08.02.2017 ab, weil die Klägerin über vorrangig einzusetzendes Vermögen insbesondere in Form der Bestattungsvorsorgeverträge verfüge. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin ebenfalls Widerspruch (Schreiben vom 13.02.2017).
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.05.2017 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin betreffend die Ablehnung von Pflegewohngeld als unbegründet zurück. Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht Münster, die unter dem Aktenzeichen 6 K 4230/17 geführt wird und noch anhängig ist.
Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 06.07.2017 wies der Beklagte auch den Widerspruch betreffend die Ablehnung der Hilfe zur Pflege als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 20.07.2017 Klage vor dem Sozialgericht Münster erhoben.
Mit Beschluss vom 12.09.2017 hat das Sozialgericht Münster das vorliegende Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Münster ausgesetzt. Auf Grund des Nachranggrundsatzes der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 SGB XII) hänge der Anspruch auf Hilfe zur Pflege davon ab, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf Pflegewohngeld bestehe. Dementsprechend sei das verwaltungsgerichtliche Verfahren für das vorliegende vorgreiflich.
Gegen den der Klägerin am 18.09.2017 zugestellten Beschluss hat diese am 18.10.2017 Beschwerde eingelegt. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren sei nicht vorgreiflich. Der Nachranggrundsatz stelle nur auf präsente, sofort realisierbare Selbsthilfemöglichkeiten des Hilfesuchenden ab, nicht aber auf Hilfemöglichkeiten, die nach dem aktuellen Sach- und Streitstand ungewiss seien. Es bestehe auch nicht die Gefahr sich wiedersprechender Entscheidungen, weil der Anspruch auf Pflegewohngeld anderen Voraussetzungen unterliege als der Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin auf Grund ihres Alters den Ausgang des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht erleben werde, sofern dieses bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ausgesetzt bliebe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist begründet.
1.) Der Beschluss des Sozialgerichts über die Aussetzung des Verfahrens ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Denn die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach der allein denkbaren Regelung des § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG sind vorliegend nicht erfüllt. Das anhängige verwaltungsgerichtliche Verfahren mit dem Aktenzeichen 6 K 4230/17, dessen Gegenstand die Ablehnung des Antrages auf Pflegewohngeld ist, ist für die Entscheidung über die Frage, ob der Klägerin ein Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach § 61 SGB XII zusteht, nicht vorgreiflich.
Vorgreiflichkeit i.S.d. § 114 Abs. 2 S. 1 SGG liegt vor, wenn die Entscheidung des Gerichts vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt. Si...