Entscheidungsstichwort (Thema)
Folgenabwägung bei der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen durch einstweiligen Rechtsschutz für einen Unions-Neubürger
Orientierungssatz
1. Bislang ist nicht geklärt, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB 2 mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist und damit für EU-Neubürger einschränkend auszulegen ist.
2. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist eine abschließende Klärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich. In einem solchen Fall ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese ist wegen der Pflicht zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens grundsätzlich zugunsten des Antragstellers zu treffen.
3. Ist lediglich ein Bewilligungszeitraum von 14 Tagen streitig, der im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung abgelaufen ist und sind für die nachfolgende Zeit Leistungen des SGB 2 bewilligt, so überwiegt ausnahmsweise das Interesse des Grundsicherungsträgers, keine finanziellen Aufwendungen an den Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage aufbringen zu müssen, das Interesse des Antragstellers am Erhalt des Regelbedarfs.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 17.04.2012 geändert. Der Antrag der Antragsteller auf Erlass einer Regelungsanordnung hinsichtlich der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 19.03 bis 03.04.2012 wird abgelehnt. Im Übrigen wird die Beschwerde als unzulässig verworfen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsgegner wendet sich gegen die Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 282,65 EUR für die Zeit vom 19.03. bis 31.03.2012 und in Höhe von 484,- EUR mtl. für die Zeit vom 01.04. bis 31.08.2012 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind verheiratet. Sie besitzen die rumänische Staatsangehörigkeit. Anfang 2009 reisten sie mit ihren Kindern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Antragsteller zu 2) meldete am 05.02.2009 ein Gewerbe (Einzelhandel mit Textilien, Zeitungen, Büchern, Schuhen, Möbeln, elektrischen Geräten) zum 01.02.2009 an. Die Stadt E erteilte den Antragstellern im März 2009 eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU mit der Auflage, dass sie zur Aufnahme einer unselbständigen, arbeitsgenehmigungspflichtigen Erwerbstätigkeit eine Arbeitserlaubnis EU und eine Arbeitsberechtigung-EU benötigten. Zum 01.05.2009 meldete der Antragsteller zu 2) sein Gewerbe ab. Am 01.04.2011 erteilte die Agentur für Arbeit in Hagen den Antragstellern eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für eine berufliche Tätigkeit jeder Art.
Am 27.01.2012 beantragte die Antragstellerin zu 1) beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie gab an, dass sie mit ihrem Ehemann bislang den Lebensunterhalt durch Ersparnisse sichergestellt habe, die nunmehr aufgebraucht seien. Durch Bescheid vom 24.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ab. Hiergegen erhoben die Antragsteller Klage.
Seit dem 04.04.2012 übt die Antragstellerin zu 1) eine Beschäftigung als Haushaltshilfe gegen ein monatliches Arbeitsentgelt von 190,- EUR aus. Durch Bescheid vom 24.04.2012 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 910,80 EUR mtl. für die Zeit vom 04.04. bis 30.04.2012 und in Höhe von 1.012,- EUR mtl. für die Zeit vom 01.05. bis 31.08.2012
Am 19.03.2012 haben die Antragsteller beantragt, den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihnen ab Antragseingang Leistungen nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfes und der Kosten der Unterkunft zu gewähren.
Durch Beschluss vom 17.04.2012 hat das Sozialgericht Dortmund den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 282,65 EUR für die Zeit vom 19.03. bis 31.03.2012 und in Höhe von 484,- EUR mtl. für die Zeit vom 01.04. bis 31.08.2012 zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es hat dem Antragsgegner 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten auferlegt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.
Am 20.04.2012 hat der Antragsgegner Beschwerde eingelegt.
Er ist der Auffassung, dass die Antragsteller ihr Aufenthaltsrecht lediglich auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alternative Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizüG/EU) stützen könnten. Da sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, seien die Antragsteller jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgenommen. Zweifel an der Vereinbarkeit der Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union bestünden nicht. Im Rahmen des § 86b Abs. 2 ...