Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Anhörungsrüge im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes

 

Orientierungssatz

1. Die Anhörungsrüge wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 178 a Abs. 1 S. 1 SGG unterscheidet nicht zwischen Hauptsacheverfahren und Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Gegen Beschwerdeentscheidungen der Landessozialgerichte im Eilrechtsschutz, die nach § 177 SGG unanfechtbar sind, kann daher uneingeschränkt die Anhörungsrüge erhoben werden.

2. Die Anhörungsrüge gewährleistet, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung nicht überrascht werden, welche auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweismitteln beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten und dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen einbezogen wird.

3. Das Gericht muss zweckgerichteten Rügen, die auf einer verfälschten Darstellung des Sachverhalts beruhen, nicht nachgehen.

 

Tenor

Die Anhörungsrügen des Antragstellers gegen den Beschluss des Senats vom 14.05.2009 werden zurückgewiesen. Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten. Prozesskostenhilfe für das Verfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Der Antragsteller ist mit seinem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Entscheidungen der Antragsgegnerin über die Absenkung von Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) um 30 vom Hundert (Bescheid vom 22.09.2008), um 60 vom Hundert (Bescheid vom 23.10.2008) und 100 vom Hundert (Bescheid vom 25.11.2008) erfolglos geblieben (Beschluss des Sozialgerichts - SG - Münster vom 30.12.2008).

Nachdem die Antragsgegnerin den Bescheid vom 25.11.2008 aufgehoben hatte, hat der Senat mit Beschluss vom 14.05.2009 die Beschwerden des Antragstellers zurückgewiesen.

Die Anhörungsrüge des Antragstellers gegen die Entscheidung des Senats bezüglich der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist statthaft.

§ 178a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), wonach auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen ist, wenn 1. ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und 2. das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat, unterscheidet nicht zwischen Hauptsacheverfahren und Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Gegen Beschwerdeentscheidungen der Landessozialgerichte in letzteren Verfahren, die nach § 177 SGG unanfechtbar sind, kann daher uneingeschränkt die Anhörungsrüge erhoben werden (vgl. LSG NW Beschl. v. 15.11.2007 -L 7 B 87/07 AS ER unter www.juris.de; Berchtold in Hennig, SGG, § 178a Rn. 75, 79; Frehse in Jansen, SGG, 3. Aufl., § 178a Rn. 6a; im Ergebnis ebenso LSG NW Beschl. v. 06.07.2007 - L 20 B 23/07 SO ER RG und Bayrisches LSG Beschl. v. 13.05.2009 - L 11 AS 242/09 B ER RG - beide unter www.juris.de ).

Die Gegenmeinung, die die Anhörungsrüge in vorläufigen Rechtsschutzverfahren auf Fälle, in denen bei einer erst im Hauptsacheverfahren stattfindenden Korrektur unzumutbare Nachteile für den Rechtsschutzsuchenden entstünden, beschränken will (vgl. LSG NW, Beschl. v. 30.10.2008 - L 1 B 59/09 AS ER RG unter www.juris.de; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl.,§ 178a Rn 3a; Zeihe, SGG, § 178a Rn 16b), findet weder im Wortlaut der Bestimmung noch in der Gesetzesbegründung ihre Stütze. § 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG erfasst alle Entscheidungen, gegen die ein Rechtsmittel oder Rechtsbehelf nicht gegeben ist. Eine Ausnahme besteht nur bezüglich einer der Endentscheidung vorausgehenden Entscheidung, gegen die nach § 178a Abs. 1 S. 2 SGG die Rüge nicht stattfindet. Um eine solche vorausgehende Entscheidung handelt es sich jedoch bei dem Beschluss über den Beschwerdeantrag in vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht (LSG NW Beschl. v. 15.11.2007 - L 7 B 287/07 AS ER = www.juris.de Rn 6; a.A. Zeihe a.a.O.). Sie sind vielmehr rechtskraftfähige Entscheidungen, die die Entscheidung in der Hauptsache regelmäßig weder präjudizieren noch fördern noch sonst - bis auf die Fälle der Vorwegnahme der Hauptsache - beeinflussen.

Der Gesetzgeber wollte die Anhörungsrüge auch ausnahmslos auf unanfechtbare Entscheidungen in vorläufigen Rechtsschutzverfahren erstrecken (vgl. Berchtold a.a.O., § 178a Rn 79). Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht die Anhörungsrüge im Rahmen vorläufigen Rechtsschutzes nur in den Verfahren als zwingend angesehen, in denen dem Rechtsschutzsuchenden unzumutbare Nachteile bei einem Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache entstünden (BVerfG Beschl. v. 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 = SozR 4-1100 Art. 103 Nr. 1 Rn 44). Der Gesetzgeber ist jedoch über diese Vorgabe hinausgegangen und hat ausdrücklich eine Unterscheidung zwischen Hauptsacheverfahren und vorläufigen Rechtsschutzverfahren abgelehnt (BT-Drucks. 15/3706 S. 14 unter 3. Satz 1). Damit sind aber grundsätzlich alle unanfechtbaren Entscheidungen in einstweiligen Anordnungs- und Regelungsverfahren der Anhörungsrüge zugän...

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