Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsarztrecht. Arzneimittelregress. Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen im Jahr 2007. Darlegung von Praxisbesonderheiten. Therapiefreiheit des Arztes. Patientenstruktur. Wirtschaftlichkeitsgebot

 

Orientierungssatz

1. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet. Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken. Die schlüssige Darlegung dieser Praxisbesonderheiten sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach obliegt dem zu prüfenden Arzt.

2. Der Arzt hat dem Patienten auf der Basis einer umfassenden Erörterung die Vor- und Nachteile bestimmter Behandlungs- oder Verordnungsalternativen darzulegen, um dann in Abstimmung mit dem Patienten eine Therapieentscheidung zu treffen. Die hieraus resultierende Therapieverantwortung sowie der gemeinsame Weg von Arzt und Patient zur vorgelagerten Therapieentscheidung ist der aus Art. 12 GG folgenden Berufsausübungsfreiheit zuzuordnen.

3. Die Entscheidungsfreiheit des Arztes erfährt jedoch nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG Einschränkungen, die sich aus den Erfordernissen einer beitragsfinanzierten, solidarischen Krankenversicherung und aus dem sie beherrschenden Wirtschaftlichkeitsgebot ergeben. Ihm wird vorgegeben, unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten fixierte Quoten (hier Richtgrößen), losgelöst von konkreten Behandlungssituationen, zu erreichen.

 

Normenkette

SGB V § 106; GG Art. 12 Abs. 1

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05.10.2011 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin, die als praktische Ärztin in F zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist, wendet sich gegen Arzneimittelregresse wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen im Jahr 2007.

Die Beigeladene zu 7) sandte der Klägerin in Zusammenarbeit mit den Verbänden der Krankenkassen in Nordrhein - den Beigeladenen zu 1) bis 6) - im September 2007, im Januar und im April 2008 die Quartalsbilanzen der Arzneiverordnungen/Richtgrößensummen für die Quartale I bis III/2007 zu. Im Mai 2009 teilte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein (Prüfungsstelle) der Klägerin mit, dass sie die Wirtschaftlichkeit ihrer Verordnungsweise von Arzneimitteln nach Richtgrößen im Jahr 2007 von Amts wegen prüfe und die Klägerin Gelegenheit habe, Praxisbesonderheiten darzulegen, die noch nicht durch die Symbolziffern der Richtgrößen-Vereinbarung erfasst seien. Zu diesem Zweck übersandte die Prüfungsstelle die Prüfunterlagen auf einer CD-ROM: die Quartals-Bilanz IV/2007, die Arzneimittelstatistik-Praxisbesonderheiten 2007, die WP 05-Liste (Indikationen nach ATC 2007), die WP 08-Liste (Verordnete Arzneimittel 2007), die WP 09-Liste (Arzneipatiententabelle 2007) sowie eine Erläuterung der Prüfunterlagen. Die Klägerin nahm dazu mit Schreiben vom 15.06.2009 Stellung. Aufgrund der typischen Patientenstruktur ihrer Praxis, die aus vielen Rentnern mit mehreren Erkrankungen bestehe, komme es immer wieder zu plötzlich auftretenden Beschwerden, die sie mit Medikamenten behandeln müsse. Sie habe "stets die absolut notwendigen und wenn möglich billigsten Medikamente" verordnet. In der Regel habe sie zu einem sehr hohen Prozentsatz Schmerzmedikamente, Neuroleptika, Cholesterin und Blutdrucktabletten verordnet. Auch mache sie viele Hausbesuche und verordne in diesem Zusammenhang Medikamente, die in einer statistischen Vergleichsgruppe nicht anfielen, da dort "nicht die intensive häusliche Behandlung der Patienten" stattfinde. Dadurch habe sie den Krankenkassen mehrere 100.000 EUR durch vermiedene stationäre Behandlungen erspart. Alle Krankenkassen hätten immer alle Rezepte bezahlt. Das Abrechnungsformular sei ihr in seinem Aufbau und in der jeweiligen Bedeutung der Unterpunkte nicht nachvollziehbar.

Mit Bescheid vom 15.07.2009 setzte die Prüfungsstelle wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen in den Quartalen I/2007 bis IV/2007 einen Regress in Höhe von (i.H.v.) insgesamt 59.823,03 EUR fest.

Diesem Bescheid widersprach die Klägerin. Sie habe weder durch Beschwerden der Krankenkassen noch durch Hinweise der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) - der Beigeladenen zu 7) - von Überschreitungen der Richtwerte gewusst. Da Fachärzte nur langfristig auf Termin arbeiteten und teilweise auch dann keine Rezepte ausstellten, sei es ihre Pflicht gewesen, in akuten Fällen mit Medikamenten ihren Patienten zu helfen. Hauptsächlich seien dies Schmerz-, Neuroleptika-, Cholesterin- und Blutdrucktabletten gewesen. Anderenfalls hätte sie einen Großteil ihrer Patienten umgehend in die N...

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