Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsberechtigung. gewöhnlicher Aufenthalt einer bulgarischen Staatsangehörigen. fehlender Aufenthaltstitel. keine Arbeitnehmereigenschaft. kein Freizügigkeitsrecht aus selbstständiger Tätigkeit als Prostituierte in Eros-Center ohne Gewerbemeldung. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität
Orientierungssatz
1. Voraussetzung für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen ist nach § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 2, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Das ist bei einem Ausländer nur dann der Fall, wenn er über einen Aufenthaltstitel verfügt, der den persönlichen Aufenthalt zulässt (vgl BSG vom 16.5.2007 - B 11b AS 37/06 R = BSGE 98, 243 = SozR 4-4200 § 12 Nr 4).
2. Voraussetzung für das Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU 2004 ist, dass sich ein Unionsbürger als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung im fremden Staat aufhalten will. Das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses ist Voraussetzung für die Arbeitnehmereigenschaft. Wer als Selbstständige der Straßenprostitution nachgeht, ist nicht Arbeitnehmer.
3. Wird die Prostitution in einem Eros-Center ausgeübt, so geschieht das iS von § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 iVm Art 43 EGV zwar mittels einer festen Einrichtung. Ist die Tätigkeit aber gewerberechtlich nicht gemeldet, so besteht kein Freizügigkeitsrecht.
4. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist von Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004 gedeckt. Danach ist der Aufnahmestaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder selbstständigen Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, während der ersten drei Monate des Aufenthalts einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 19.03.2012 geändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die 1992 in Bulgarien geborene Antragstellerin reiste im April 2011 nach Deutschland ein. Sie verfügt über keine Freizügigkeitsbescheinigung, auch wurde ihr nach Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde der Stadt T, wo sie sich zunächst anmeldete, kein sonstiger Aufenthaltstitel erteilt. In T arbeitete sie zunächst als Prostituierte auf dem Straßenstrich. Nachdem die Antragstellerin in der Stadt T am 22.08.2012 von Amts wegen abgemeldet wurde, zog sie nach I. In I, wo sie nach ihren eigenen Angaben überhaupt nicht gemeldet war, arbeitete sie als Sexarbeiterin in einem Eros-Center und zahlte pauschal Steuern. Im Winter 2011 reiste sie nach L, wo sie wiederum als Prostituierte auf dem Straßenstrich tätig war. Auch in L war die Antragstellerin nicht gemeldet und verfügte auch nicht über einen festen Wohnsitz. Aufgrund einer Risikoschwangerschaft mit errechnetem Entbindungstermin am 01.04.2012 war sie aufgrund einer Bescheinigung des Gesundheitsamtes der Stadt L spätestens seit Januar 2012 arbeitsunfähig erkrankt.
Am 14.02.2012 beantragte sie die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beim Antragsgegner. Nach ihren eigenen Angaben lebte sie bislang von ihren Einkünften, die jedoch zwischenzeitlich verbraucht seien. Seitdem habe sie nach ihren Angaben von der agisra (Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung e.V.) sowie von Kolleginnen Notunterstützung erhalten. Die Beigeladene vermittelte ihr eine Unterkunft im Hotel U für Obdachlose. Die Kosten hierfür betragen 21,00 EUR täglich.
Am 23.02.2012 stellte sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Köln. Aufgrund der Schwangerschaft und der bestehenden Arbeitsunfähigkeit könne sie ihrer beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen.
Das Sozialgericht Köln hat die Stadt L - Amt für Soziales und Senioren - beigeladen und sodann den Antragsgegner mit Beschluss vom 19.03.2012 verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis 31.05.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren. Der Antragstellerin seien unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach einer Folgenabwägung die begehren Leistungen vorläufig zu bewilligen. Im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vermöge das Gericht nicht abschließend zu klären, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Die Antragstellerin gehöre zwar zum bezugsberechtigten Personenkreis der Leistungen des SGB II, sie sei erwerbsfähig - die Schwangerschaft und die dadurch bedingte Arbeitsunfähigkeit stünden dem nicht entgegen - und auch hilfebedürftig (§ 7 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 Sozialgesetzbuch (SGB) II). Problematisch sei jedoch die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Mit Urteil vom 16.05.2007 habe das BSG entschieden, dass Ausländer nur dann ihren gewöhnlichen Aufe...