Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungen der Grundsicherung für eine bulgarische Staatsangehörige durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Die selbständige Tätigkeit einer bulgarischen Staatsangehörigen als Straßenprostituierte begründet kein Aufenthaltsrecht als niedergelassene selbständige Erwerbstätige nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB 2, weil eine solche Tätigkeit eine organisatorisch verfestigte Existenz, z. B. durch Anmietung eines Raumes, erfordert, vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2012 - B 14 AS 23/10 R.
2. Bei dieser Tätigkeit besitzt sie aber ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU. Diese Vorschrift ist europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass sie sich auch auf selbständige Unionsbürger ohne Niederlassung bezieht. Die Ausübung der Prostitution ist vom Schutzbereich europarechtlicher Vorschriften erfasst, vgl. EuGH, Urteil vom 20. November 2001 - C-268/99.
3. Eine Erwerbsfähigkeit i. S. von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 8 SGB 2 ist dann gegeben, wenn die Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich arbeiten kann. Allein die Diagnose einer HIV-Infektion begründet nicht die Annahme einer Erwerbsunfähigkeit i. S. von § 8 Abs. 1 SGB 2.
4. Neue Unionsbürger sind gegenüber inländischen Arbeitskräften und Staatsangehörigen aus den alten EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich einer Beschäftigungsaufnahme in der der Bundesrepublik zwar nachrangig zu behandeln. Ist nach Aktenlage offen, ob eine Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsleistung/EU für eine Beschäftigung als Reinigungskraft oder für eine sonstige Tätigkeit ohne qualifizierte Berufsausbildung im Hinblick auf den Arbeitsmarkt nach § 284 Abs. 3 SGB 3 besteht und ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 FreizügG/EU glaubhaft gemacht, so greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 nicht ein.
5. Dieser greift bei bulgarischen Staatsangehörigen ohne Arbeitsberechtigung nach § 284 SGB 3 dann, wenn als Aufenthaltszweck allein der der Arbeitsuche in Betracht kommt.
6. Besteht dem Grunde nach mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch, so sind bei bestehender Existenzgefährdung der Antragstellerin dieser Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 04.05.2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 29.03.2012 bis zum 31.07.2012 Regelbedarf nach § 20 SGB II in Höhe von 374,00 EUR mtl. zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Der Antragstellerin wird ab dem 15.06.2012 Prozesskostenhilfe ratenfrei bewilligt und Rechtsanwältin T, L, beigeordnet.
Gründe
I.
Die am 00.00.1984 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben hält sie sich seit ca. 2002 in der Bundesrepublik Deutschland auf, lebte in C, ca. fünf Jahre in G und seit etwa zwei Jahren in L. In der Zeit vom 05.08. bis 02.10.2007 war die Antragstellerin unter der Adresse U-weg 00, X gemeldet. Gegenüber der Meldebehörde in X gab sie an, dass sie am 00.00.2007 aus Bulgarien ersteingereist sei. Die Abmeldung erfolgte von Amts wegen. Eine Meldung der Antragstellerin in G liegt nach der telefonischen Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt G nicht vor. Am 20.03.2012 meldete sich die Antragstellerin unter der Adresse T-straße 00, L an. Wohnungsinhaber ist J T. Laut Vermerk der Meldebehörde gab die Antragstellerin an, dass sie vom U-weg 00, X zugezogen sei. Die Antragstellerin besitzt keine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) und keine ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III).
Die Antragstellerin bestritt ihren Lebensunterhalt nach eigenen Angaben bis zum 01.02.2012 durch die Ausübung von Prostitution. Eine Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung e.V. (B) bestätigte schriftlich, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Streetworkerin seit Mai 2011 die Antragstellerin in den Jahren 2011 und 2012 auf dem Straßenstrich im L Süden bei der Ausübung der Prostitutionstätigkeit angetroffen habe. Unter dem 04.06.2012 fertigte die Antragstellerin eine Steuererklärung über Betriebseinnahmen aus Prostitution in Höhe von 8.400,00 im Jahr 2011 an. In der beigefügten Gewinnermittlung. gab sie u. a. an , dass sie in den Monaten Januar bis April 2011 Einkünfte von 610,00 EUR bis 820,00 EUR erzielt habe.
Nach der Diagnose einer HIV-Infektion Anfang Februar 2012 gab die Antragstellerin die Tätigkeit als Prostituierte auf. Zum 15.03.2012 meldete sie sich bei der Bundesagentur für Arbeit online arbeitsuchend. Als gewünschte Tätigkeit gab sie "Reinigungskraft" an. Sie sei seit dem 01.02.2012 voraussichtlich ar...