Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Sozialhilfe für einen von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossenen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz. Aufenthaltsrecht. Erwerbsfähigkeit. Aufenthaltsverfestigung. Ermessensreduzierung auf Null. Existenzminimum
Orientierungssatz
1. Es bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtsauffassung des BSG, dass im Anschluss an einen sechsmonatigen Aufenthalt für nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, welche nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB 12 von Sozialhilfeleistungen nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB 12 gerade ausgeschlossen sind, nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB 12 regelhaft doch Sozialhilfeleistungen zu erbringen seien.
2. Gleichwohl ist es jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geboten, von dieser Rechtsprechung nicht abzuweichen. Ohne eine zusprechende Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz wäre der von Leistungen der Grundsicherung nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 ausgeschlossene Unionsbürger gänzlich mittellos. Es erscheint infolgedessen sachgerecht, dem Antragsteller existenzsichernde Leistungen zuzusprechen, die ihm jedenfalls nach der Rechtsauffassung des BSG zustehen.
Normenkette
SGB XII § 21 S. 1, § 23 Abs. 1 S. 3, Abs. 3 S. 1; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a; EFA Art. 1; EFA Art. 16; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 22.11.2016 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren.
Der Antragstellerin wird ab dem 15.12.2016 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T, F, bewilligt.
Gründe
I.
Streitig sind im Wege des Eilrechtsschutzes (noch) vorläufige Leistungen nach dem SGB XII für die Monate November und Dezember 2016.
Die 1981 in Afghanistan geborene Antragstellerin ist norwegische Staatsangehörige und reiste nach eigenen Angaben im Jahr 2015 in das Bundesgebiet ein, um vor Misshandlungen (u.a.) ihres früheren Ehemannes zu fliehen. Dort wohnte sie zunächst bei ihrem Bruder oder Vetter, floh aber - ihrem Vorbringen folgend - im Dezember 2015 vor dessen drohenden Gewalttätigkeiten in ein Frauenhaus in F, in dem sie sich nach wie vor aufhält. Erwerbstätig ist die Antragstellerin seit ihrer Einreise nicht.
Durch Beschluss vom 15.06.2016 verpflichtete das Sozialgericht Duisburg (S 49 AS 1653/16 ER) die (dort beigeladene) Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung, der Antragstellerin vom 19.04.2016 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für sechs Monate, Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Form des jeweiligen Regelsatzes nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die dagegen eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin blieb erfolglos (Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 04.08.2016 - L 19 AS 1307/16 B ER). Entsprechend zahlte die Antragsgegnerin der Antragstellerin vom 19.04. bis zum 18.10.2016 Leistungen in der vom Sozialgericht tenorierten Höhe aus.
Durch Bescheid vom 06.07.2016, am 08.07.2016 mit einfachem Schreiben an die Bevollmächtigten der Antragstellerin versandt, lehnte die Antragsgegnerin den zwischenzeitlich gestellten Antrag der Antragstellerin vom 05.07.2016 auf Leistungen nach dem SGB XII ab. Den dagegen am 15.08.2016 eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 18.10.2016 zurück. Der Widerspruch sei nicht fristgerecht eingelegt und der Bescheid vom 06.07.2016 daher bestandskräftig geworden. Die dagegen erhobene Klage ist beim Sozialgericht Duisburg (S 2 SO 592/16) anhängig.
Im Rahmen eines weiteren Eilverfahrens (S 48 SO 519/16 ER), mit welchem die Antragstellerin die Weitergewährung der bisherigen Leistungen ab dem 20.10.2016 begehrte, wurde die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB XII in Höhe des Regelbedarfs bis zum 31.10.2016 (= Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung) zu erbringen (Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 20.10.2016).
Am 31.10.2016 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Duisburg erneut um Eilrechtsschutz nachgesucht und nunmehr die Weitergewährung der Leistungen nach dem SGB XII in der bisher zuerkannten Höhe vom 01.11.2016 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für sechs Monate, begehrt sowie Prozesskostenhilfe beantragt. Eine Rückkehr nach Norwegen sei ihr nicht zumutbar, weil sie dort von ihrem früheren Ehemann misshandelt worden sei.
Die Antragsgegnerin hat die Auffassung vertreten, die Antragstellerin sei als Erwerbsfähige gemäß § 21 SGB XII von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen. Sie könne jederzeit in ihr Herkunftsland Norwegen zurückkehren und dort ihren Lebensunterhalt sicherstellen. Norwegen sei zwar kein Mitgliedstaat der Europäischen Union, habe sich jedoch durch den Beitritt als EWR-Staat verpflichtet, die Werte des ...