Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Rechtsprechung des BSG. kein Leistungsausschluss nach § 21 S 1 SGB 12. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Ermessensreduzierung auf Null bei mehr als sechsmonatigem Aufenthalt. verfassungskonforme Auslegung. Erwerbsfähigkeit. Existenzminimum. Folgenabwägung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu einem Anspruch von EU-Bürgern auf Existenzsicherung zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII (vgl ua BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 46, B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43 und B 4 AS 59/13 R sowie vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 47) begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Grenzen einer zulässigen verfassungskonformen Auslegung.

2. In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der ersten und zweiten Instanz ist ggf ein solcher Anspruch auf existenzsichernde Leistungen zuzusprechen, da er nach höchstrichterlicher Rechtsprechung besteht und eine Anrufung des Bundessozialgerichts gegen ablehnende instanzgerichtliche Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist.

 

Normenkette

SGB XII § 23 Abs. 1 S. 3, Abs. 3, § 21 S. 1; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 09.03.2016 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren.

Der Antragstellerin wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. M, F, bewilligt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zu vorläufigen Leistungen nach dem SGB XII im Wege des Eilrechtsschutzes.

Die 1970 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste im Januar 2014 nach Deutschland ein und lebt seither ununterbrochen mietfrei bei ihrem Bruder im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin.

Ihre seit November 2014 beim beigeladenen Jobcenter gestellten Anträge auf Leistungen nach dem SGB II wurden abgelehnt; insoweit sind Klageverfahren vor dem Sozialgericht Duisburg anhängig. In einem der Widerspruchsverfahren hat die Antragstellerin beim Beigeladenen vorgetragen, sie habe im Mai 2015 eine Arbeitsstelle als Reinigungskraft gefunden; es sei ihr allerdings weder ein Arbeitsvertrag ausgehändigt noch Lohn ausgezahlt worden.

Auf einen im April 2015 gestellten Eilantrag verpflichtete das Sozialgericht Duisburg den Beigeladenen, der Antragstellerin vorläufig Leistungen in Höhe des Regelbedarfs nach dem SGB II bis zum 02.10.2015 zu gewähren (S 38 AS 1433/15 ER). Die Beschwerde des Beigeladenen blieb erfolglos (L 19 AS 888/15 B ER).

Am 07.01.2016 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB XII. Die Antragsgegnerin teilte ihr bei einer Vorsprache am 01.02.2016 mit, dass der Beigeladene für Leistungen zuständig sei.

Hierauf hat sich die Antragstellerin am 03.02.2016 an das Sozialgericht Duisburg gewandt und um Eilrechtsschutz nachgesucht. Sie hat vorgetragen, sie halte sich berechtigterweise in Deutschland auf. Denn sie habe ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anwendbar, so dass sie vom Beigeladenen keine Leistungen erhalten könne. Sie habe jedoch nach § 23 SGB XII einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin. Über Vermögen verfüge sie nicht; die Sache sei deshalb eilbedürftig.

Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, die Antragstellerin sei gemäß § 21 SGB XII als Erwerbsfähige von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen. Die Abgrenzung der Leistungsregime des SGB II und des SGB XII richte sich nach der Erwerbsfähigkeit. Dies gelte auch dann, wenn ein Erwerbsfähiger tatsächlich keine Leistungen nach dem SGB II erhalte; insoweit komme es allein auf die grundsätzliche Zuweisung zum Leistungsregime des SGB II an. Soweit das BSG in seiner Entscheidung vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R in eine Ermessensleistung nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII ausweiche und dabei von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehe, habe es sich über den deutlichen gesetzgeberischen Willen hinweggesetzt. Anders als Personen, die unter das Leistungsregime des AsylbLG fielen, seien Staatsbürger von Mitgliedsstaaten der EU in der Lage, kurzfristig in ihr Herkunftsland auszureisen. Auch der Antragstellerin sei eine Rückkehr nach Polen grundsätzlich zumutbar; die Antragsgegnerin sei insofern bereit, Hilfe in Form einer Fahrkarte und von Verzehrgeld zu gewähren.

Der Beigeladene hat vorgetragen, die Antragst...

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