Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Aufenthalt eines unbegleiteten minderjährigen Unionsbürgers zu schulischen Zwecken. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot nach Art 1 EuFürsAbk. erlaubter Aufenthalt im Bundesgebiet. Freizügigkeitsvermutung für Unionsbürger. Überbrückungsleistungen. aliud
Orientierungssatz
1. Zum Anspruch eines unbegleiteten minderjährigen Unionsbürgers, der sich zu schulischen Zwecken im Bundesgebiet aufhält, auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2.
2. Für den zur Anwendung des Gleichbehandlungsgebots des Art 1 EuFürsAbk erforderlichen "erlaubten" Aufenthalt genügt die von den materiellen Freizügigkeitsberechtigungen zu unterscheidende generelle Freizügigkeitsvermutung für Unionsbürger (vgl § 2 Abs 5 FreizügG/EU 2004) nicht.
3. Jedenfalls die Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 S 3 bis 5 SGB 12 stellen als "aliud" regelmäßig einen eigenständigen, nicht einbezogenen Streitgegenstand im Verhältnis zu einem Anspruch auf laufende Grundsicherungsleistungen zum Lebensunterhalt dar.
Tenor
Die Beschwerden der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 25.02.2022 werden zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt G wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch in den Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Bewilligung existenzsichernder Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) bzw. Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Die 2006 geborene Antragstellerin ist griechische Staatsangehörige. Nachdem sie im Juni 2021 in ihrem Heimatland die Pflichtschulausbildung (sog. untere Sekundarausbildung - Gymnaseio) beendet hatte, reiste sie in die Bundesrepublik ein. Hier wohnt sie seit September 2021 bei einer Verwandten, der 1986 geborenen russischen Staatsangehörigen Frau D., im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Frau D. ist nach den Angaben der Antragstellerin deren Tante 3. Grades und durch notarielle Erklärung der (in Griechenland getrennt lebenden) Eltern der Antragstellerin vom 27.08.2021 ("Akte zur Übertragung des Sorgerechts eines minderjährigen Kindes Nummer -12.888-") als deren "Vormund und Vertreterin" bestimmt. Hinsichtlich der genauen Einzelheiten des Inhalts der notariellen Erklärung wird auf Blatt 12 f. der Prozessakte Bezug genommen. Die Antragstellerin besucht seit ihrer Einreise die S-Realschule in E.
Ihren Antrag auf Leistungen nach dem SGB II vom 07.10.2021 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 16.12.2021 unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab. Die Antragstellerin könne sich auf kein Aufenthaltsrecht bzw. lediglich auf ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche berufen. Die Antragstellerin legte am 21.12.2021 Widerspruch ein mit der Begründung, sie sei das Pflegekind der Frau D. Es seien Anträge auf Leistungen nach dem SGB XII und nach dem - Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) gestellt worden. Der Antragsgegner wies, nachdem er zunächst die Antragstellerin u.a. zur Glaubhaftmachung eines Aufenthaltsrechts aufgefordert hatte, den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2022 als unbegründet zurück. Die Antragstellerin sei keine Arbeitnehmerin und auch kein Familienmitglied einer leistungsberechtigten Person. Sie könne sich allein auf ein Aufenthaltsrecht aus § 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) berufen, welches nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II zum Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II führe. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Satz 4 SGB II lägen nicht vor, da die erstmalige Einreise in die Bundesrepublik am 03.09.2021 erfolgt sei und somit kein verfestigter Aufenthalt im Bundesgebiet von fünf Jahren gegeben sein könne.
Am 07.04.2022 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht (SG) Dortmund Klage gegen den Bescheid vom 16.12.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2022 erhoben, die dort unter dem Aktenzeichen S 32 AS 940/22 geführt wird.
Zwischenzeitlich stellte die Antragstellerin unter dem 23.12.2021 einen "Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII" bei der durch Beschluss des Senats vom 02.06.2022 zu dem Verfahren hinzugezogenen Beigeladenen, den diese nicht beschied, sondern im Januar "zuständigkeitshalber" an den Antragsgegner weiterleitete.
Bereits am 01.02.2022 hat, sich die Antragstellerin - anwaltlich vertreten - mit einem Eilantrag an das SG gewandt. Gleichzeitig hat sie einen Antrag auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten gestellt. In der Sache hat sie geltend gemacht, bedürftig zu sein. Eigentlich zuständig sei der Träger der Leistungen nach dem SGB VIII. Da bisher insoweit jedoch keine...