Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozesskostenhilfe. Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung. Verfassungswidrigkeit der Neubemessung der Regelbedarfe des SGB 2 und SGB 12. Schwierige Rechtsfrage. Soziokulturelles Existenzminimum. Berechnungsverfahren. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

 

Orientierungssatz

1. Zur Bejahung der Erfolgsaussicht einer Klage reicht es aus, dass der Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Das ist ua dann der Fall, wenn die gute Möglichkeit des Obsiegens in Bezug auf die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit einer Norm besteht. Wird mit einer Klage geltend gemacht, die Ermittlungen zur Höhe des Regelbedarfs entsprächen nicht den Anforderungen, die das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben habe, so handelt es sich um die bisher nicht geklärte Rechtsfrage, ob das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB 2 und des SGB 12 die vom BVerfG in seinem Urteil vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) aufgezeigten Anforderungen erfüllt.

2. Die Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Normen zum Regelbedarf ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber bei der Bemessung der Regelleistung das von ihm gewählte Verfahren nicht stringent beibehalten hat, sondern von den Strukturprinzipien des Statistikmodells ohne sachliche Rechtfertigung abgewichen ist, ohne diese durch andere tragfähige Kriterien zu ersetzen.

3. In seiner Entscheidung vom 9.2.2010 hat das BVerfG dem Gesetzgeber die Obliegenheit auferlegt, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden nachvollziehbar offenzulegen. Damit ist für ein Klagebegehren zur Verfassungsmäßigkeit der Regelbedarfe bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen Prozesskostenhilfe zu gewähren.

 

Normenkette

SGB II § 20; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGG § 73a Abs. 1; ZPO § 114

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 31.05.2011 geändert. Dem Kläger wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt C aus C beigeordnet.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet.

Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden. Die abschließende Klärung der Sach- und Rechtslage darf nicht in das Prozesskostenhilfeverfahren, in dem nur eine summarische Prüfung erfolgt, vorverlagert werden. Letzte Zweifel an der rechtlichen Beurteilung müssen nicht ausgeschlossen sein, denn eine endgültige und abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten ist in der Regel weder möglich noch notwendig (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 73a Rn. 7, 7a, 7b). Es reicht für die Bejahung der Erfolgsaussicht aus, dass der Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (BSG, Urteil vom 17.02.1998 - B 13 RJ 83/97 R). Diese ist in aller Regel dann anzunehmen, wenn der Rechtsstandpunkt des Klägers vertretbar ist und die behaupteten anspruchsbegründenden Tatsachen nachweisbar erscheinen (Hdb SGG - Udsching, VI Rn. 60; Leitherer, a.a.O., Rn. 7).

Die Klage vom 09.03.2011 gegen den Bescheid vom 28.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2011 und des Änderungsbescheides vom 05.05.2011 hat hinreichende Aussicht auf Erfolg. Hinreichende Erfolgsaussicht ist auch dann anzunehmen, wenn der Ausgang eines Verfahrens von einer schwierigen, bislang nicht geklärten Rechtsfrage abhängt. Eine Erfolgsaussicht in diesem Sinne ist auch nicht deswegen zu verneinen, weil die Klärung der Verfassungskonformität der Neuregelung des Regelbedarfs nicht die Verurteilung des Leistungsträgers zur Gewährung eines höheren, genau bezifferten Regelbedarfs bedingt (so LSG NRW, Beschluss vom 15.12.2011 - L 2 AS 1928/11 B). Dies ergibt sich auch mittelbar aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ([BVerfG], Urteile vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Denn das BVerfG bestimmt genau in dieser Konstellation, dass "die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Vorschriften und ihrer Nachfolgeregelungen bei Kostenentscheidungen zugunsten der klagenden Hilfebedürftigen angemessen zu berücksichtigen seien, soweit dies die gesetzlichen Bestimmungen ermöglichen" (BVerfG, a.a.O., Rn. 219). Die Frage der hinreichenden Erfolgsaussicht der Klage ist somit davon abhängig, ob eine gute Möglichkeit des Obsiegens in Bezug auf die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit besteht (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.10.2011 - L 7 AY 3538/11 B; Düring in Jansen, SGG, § 73a Rn. 12).

Diese gute Möglichkeit des...

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