Entscheidungsstichwort (Thema)

Mehraufwand für kostenaufwändige Ernährung bei Diabetes mellitus

 

Orientierungssatz

1. Die wissenschaftlichen Auffassungen bezüglich der bei Diabetes mellitus erforderlichen Diät haben sich in den letzen Jahren fundamental geändert. Danach bietet eine ausgewogene Mischkost mit Eiweiß- und Fettanteilen von 20 bis 30 % und einem Kohlenhydratanteil von mindestens 50 % sowie die Einhaltung eines normalen Körpergewichts die besten Voraussetzungen, eine optimale Blutzuckereinstellung zu erreichen und Spätkomplikationen zu vermeiden.

2. Inzwischen ist wissenschaftlich gesichert, dass es keine Nahrungsmittel gibt, welche für die Ernährung von Diabetikern besonders vorteilhaft sind. Die Ernährung eines Patienten mit Diabetes kann deshalb mit den gleichen Nahrungsmitteln erfolgen wie bei Gesunden. Die Notwendigkeit von Mehrkosten zur Ernährung von an Diabetes Erkrankten ist damit zu verneinen.

3. Spätestens mit Erscheinen des Begutachtungsleitfadens des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe vom Januar 2002 liegen neue Erkenntnisse vor, die ein Abweichen von den Empfehlungen des Deutschen Vereins rechtfertigen.

4. Grundsätzlich ist keine spezielle Diabetikerkost erforderlich. Es erscheint aber nicht ausgeschlossen, dass aufgrund der erforderlichen besonders guten Ernährung ein Mehraufwand im Vergleich zur Ernährung gesunder Leistungsempfänger entsteht. Hierzu bedarf es besonderer Ermittlungen im einzelnen Fall.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 21.03.2006 abgeändert und dem Kläger für das Klageverfahren ab dem 17.11.2005 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin N bewilligt. Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung.

Der 1968 geborene Kläger ist schwerbehindert bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 (bis zum 14.02.2005 von 80). Der Kläger leidet u. a. an Diabetes mellitus Typ IIa, der mit oralen Antidiabetika behandelt wird (Bescheinigung des Dr. W aus I vom 29.11.2004).

Seit dem 01.01.2005 bezieht der Kläger Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 23.12.2004 lehnte die Beklagte die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages für Ernährung gemäß § 23 Abs. 4 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ab. Mit Schreiben vom 06.06.2005 beantragte der Kläger, nunmehr rechtsanwaltlich vertreten, die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand hinsichtlich der Widerspruchsfrist. Der Bescheid vom 23.12.2004 sei beim Betreuer des Klägers erstmals am 23.05.2005 eingegangen. Dem Widerspruch sei abzuhelfen, da der Kläger unter Diabetes leide. Nachdem er mit Tabletten mangels Verträglichkeit nicht hätte eingestellt werden können, sei er dringend auf entsprechend abgestimmte Ernährung in Form von Diätkost angewiesen. Entgegen den Ausführungen im ablehnenden Bescheid fielen im Vergleich zur Kost für einen gesunden Menschen erhebliche Mehrkosten an. Sowohl diätetische Lebensmittel als auch Getränke lägen im Preis erheblich über denen vergleichbarer "normaler" Kost.

Mit Schreiben vom 27.06.2005 teilte die Beklagte dem Kläger mit, der ablehnende Bescheid vom 23.12.2004 sei bisher nicht bekannt gegeben worden. Mangels Wirksamkeit könne er auch nicht angefochten werden. Der Widerspruch werde als (nochmaliger) Antrag auf Gewährung der begehrten Leistungen gewertet.

Mit Schreiben vom 02.07.2005 teilte die jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, ausweislich der Bestallungsurkunde - die Betreuung besteht zwischenzeitlich nicht mehr - bestehe kein Einwilligungsvorbehalt, so dass der Kläger sie habe wirksam beauftragen können. Mit Übersendung des Bescheides vom 23.12.2004 an den Betreuer sei dieser bekannt gegeben worden. Dies könne aber auch dahin stehen, da es dem Kläger um eine kurzfristige Entscheidung in der Sache selbst gehe.

Mit Bescheid vom 04.07.2005 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 14.12.2004 auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages für Ernährung nunmehr gemäß § 21 Abs. 5 SGB II ab. Laut Gutachten des Fachbereichs Gesundheit der Stadt I seien die Voraussetzungen für einen nicht durch die Regelsätze bereits abgedeckten Bedarf bei den Erkrankungen des Klägers nicht gegeben. Nach den heutigen medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Anforderungen weiche eine genügende Ernährung für normalgewichtige Diabetiker lediglich minimal in der Zusammensetzung der Nahrung von einer auch für Gesunde empfehlenswerten ausgewogenen Kost ab, so dass hierdurch keine wesentlichen Mehrkosten im Vergleich zu einer Normalernährung entstünden.

Mit Widerspruch vom 25.07.2005 trug der Kläger vor, er bedürfe einer wesentlich kostenaufwändigeren Ernährung als ein gesunder Leistungsempfänger.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2005 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Wegen einer weitgehenden Angleichung der Kost für Gesunde und Diabetiker im Zuge des Wandels zur "Fitness-Gesel...

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