Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung von Leistungen der Grundsicherung an einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz. Leistungsausschluss. Aufenthaltsrecht. Arbeitssuche. Verfassungsmäßigkeit. Existenzminimum. Vorläufige Bewilligung trotz Ablehnungsbescheid. Ermessensreduzierung auf Null

 

Orientierungssatz

1. Nach der über § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB 2 anwendbaren Vorschrift des § 328 Abs. 1 Nr. 2 SGB 3 kann über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung Gegenstand eines Verfahrens vor dem BSG ist.

2. Die Rechtsfrage, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 gegen Verfassungsrecht verstößt bzw. verfassungskonform einschränkend auszulegen ist, ist u. a. in dem Verfahren des BSG B 14 AS 15/15 R entscheidungserheblich.

3. Der Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB 3 bei Erlass eines Ablehnungsbescheides entfällt erst dann, wenn kein entsprechendes Verfahren beim BSG mehr anhängig ist. § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB 3 ermächtigt dazu, eine Zwischenregelung zu treffen, bis die Rechtsfragen, die zu Grund, Höhe und/oder Dauer des Anspruchs entscheidungserheblich sein müssen, geklärt sind.

 

Normenkette

SGB III § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 40 Abs. 2 Nr. 1; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGB I § 39 Abs. 1; SGB X § 39 Abs. 2; SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 18.08.2015 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller auch für das Beschwerdeverfahren.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt N bewilligt.

 

Gründe

Die Antragsteller begehren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).

Die im Jahr 1986 geborene Antragstellerin zu 1), ihr 1986 geborener Ehemann (Antragsteller zu 2)) und der am 00.00.2015 in Deutschland geborene gemeinsame Sohn (Antragsteller zu 3)) sind rumänische Staatsbürger. Die Antragsteller zu 1) und 2) leben seit Februar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland. Der Antragsteller zu 2) war vom 01.04.2014 bis zum 31.01.2015 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sein Verdienst betrug monatlich netto ca. 1150 Euro. Seit September 2014 standen sie im Leistungsbezug beim Antragsgegner. Den Antrag vom 09.07.2015, ihnen über den 31.07.2015 Leistungen weiter zu bewilligen, lehnte der Antragsgegner zunächst mit Bescheid vom 14.07.2015 ab, hob diesen Bescheid auf den Widerspruch der Antragsteller mit Bescheid vom 12.08.2015 auf und lehnte mit Bescheid vom selben Tage erneut die Gewährung von Leistungen ab mit der Begründung, die Antragsteller seien nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen.

Am 05.08.2015 haben die Antragsteller beim SG Gelsenkirchen um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht mit dem Antrag, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen vorläufig Leistungen in Höhe des Regelbedarfs unter Berücksichtigung der tatsächlichen Einkünfte zu bewilligen. Dazu haben sie Kontoauszüge vorgelegt. Die Antragsteller zu 1) und 2) haben eidesstattlich versichert, nicht über Vermögen zu verfügen und als Einkommen zurzeit lediglich Elterngeld in Höhe von monatlich 300 Euro zur Verfügung zu haben. Das Kindergeld in Höhe von 184 Euro werde bisher nicht ausgezahlt. Sie haben vorgetragen, sie hielten sich zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie hätten Deutschland als Lebensmittelpunkt gewählt, hier geheiratet und auch der Antragsteller zu 3) sei hier geboren worden. Der Antragsteller zu 2) habe bereits zehn Monate versicherungspflichtig in der Bundesrepublik gearbeitet.

Mit Beschluss vom 18.08.2015 hat das Sozialgericht den Antragsgegner dazu verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum vom 05.08.2015 bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens für sechs Monate, den Regelbedarf nach weiterer Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Aufgrund der noch nicht umfassend geklärten Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II seien im Rahmen einer Folgenabwägung vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Gegen den am 20.08.2015 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 15.09.2015 Beschwerde erhoben. Den gleichzeitig gestellten Antrag, die Vollstreckung aus dem angefochten Beschluss einstweilen auszusetzen, hat das Gericht durch Beschluss vom 18.09.2015 abgelehnt. Der Antragsgegner ist der Auffassung, der Beschluss des Sozialgerichts sei nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15.09.2015 (C-67/14) aufzuheben.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 18.08.2015 aufzuheben und den Antrag auf einstweiligen Rechtschutz abzulehnen.

Die Antragsteller und Beschwerdegegne...

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