Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Bedürftigkeit. Glaubhaftmachung. Zurechnung der Kenntnis des Grundsicherungsträgers. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit auch auf Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Ermessensreduzierung auf Null. Aufenthaltsverfestigung
Orientierungssatz
1. Leistungsträger dürfen existenzsichernde Leistungen nicht aufgrund von bloßen Mutmaßungen verweigern, die sich auf vergangene Umstände stützen, wenn diese zur gegenwärtigen Lage eines Anspruchstellers keine eindeutigen Erkenntnisse zulassen. Aufgelaufene Mietschulden sprechen für Mittellosigkeit. Die schlichte Annahme, es müssten weitere finanzielle Mittel vorhanden sein, ist für eine Leistungsverweigerung nicht ausreichend (vgl LSG Essen vom 20.1.2010 - L 12 B 97/09 AS ER).
2. Einem Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger steht nicht entgegen, dass dieser bis zum Zeitpunkt seiner Beiladung keine Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers hatte. Der Sozialhilfeträger muss sich insoweit die Kenntnis des Trägers der Grundsicherung für Arbeitsuchende zurechnen lassen (vgl BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 66/13 R = BSGE 2016, 303 = SozR 4-4200 § 7 Nr 42 und vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43).
3. Unterfällt der Antragsteller dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2, so ist er nicht nach § 21 S 1 SGB 12 vom Leistungsbezug nach dem SGB 12 ausgeschlossen. Er ist nicht als Erwerbsfähiger dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB 2 (vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R aaO).
4. Dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 unterfallen sowohl Unionsbürger mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche als auch Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht (vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R aaO).
5. Selbst wenn es sich bei dem Antragsteller um einen Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht handelt und er im Hinblick auf die Regelung des § 23 Abs 3 S 1 SGB 12 keinen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs 1 S 1 SGB 12 hat, steht ihm ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt als Ermessensleistung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 zu (vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R aaO).
6. Das Ermessen des Sozialhilfeträgers ist im Hinblick auf die Dauer des Aufenthalts von mehr als einem Jahr auf Null reduziert (vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R aaO).
Tenor
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 09.09.2015 geändert. Die Beigeladene wird einstweilig verpflichtet, dem Antragsteller Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII in Höhe von 80 % der Regelbedarfsstufe I für den Zeitraum vom 26.08.2015 bis 29.02.2016 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Hälfte der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.
Gründe
I.
Der 1970 geborene Antragsteller griechischer Staatsangehörigkeit hielt sich nach seinen Angaben dem Antragsgegner gegenüber erstmalig von 2004 bis 2007 in der Bundesrepublik auf. Er sei im März 2014 in die Bundesrepublik mit Ersparnissen von 3.000,00 EUR wieder eingereist. In der Zeit vom 07.04.2014 bis zum 18.08.2014 war er gegen ein Bruttoentgelt von 400,00 EUR monatlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auf den Antrag vom 18.09.2014 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.09.2014 bis zum 18.02.2015 (Bescheid vom 19.01.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2015). Durch Bescheid vom 20.02.2015 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag des Antragstellers vom 16.02.2015 unter Berufung auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Mit Bescheid vom 04.08.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.10.2015 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag des Antragstellers vom 28.07.2015, ebenfalls unter Berufung auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Hiergegen hat der Antragsteller Klage erhoben.
Am 28.08.2015 hat er bei dem Sozialgericht beantragt, den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihm ab Eingang seines Antrags Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe, hilfsweise vorläufig, zu gewähren und einen angemessenen Vorschuss i.H.v. mindestens 751,00 EUR auszuzahlen.
Durch Beschluss vom 29.09.2015 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen sowohl den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes als auch den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren abgelehnt. Auf die Gr...