Entscheidungsstichwort (Thema)
Anordnungsanspruch. Anordnungsgrund. Ergänzende Leistungen. Soziokulturelles Existenzminimum. Auslegung. Integration
Leitsatz (redaktionell)
1. Geht es in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und kann sich das Hauptsacheverfahren u.U. über mehrere Jahre hinziehen, so besteht ein Anordnungsgrund regelmäßig bereits dann, wenn der geltend gemachte materiell-rechtliche Anordnungsanspruch überwiegend wahrscheinlich erscheint und damit glaubhaft gemacht ist.
2. Ein Anspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG setzt – entgegen dem Wortlaut – nicht zwingend voraus, dass der Leistungsberechtigte über eine Dauer von insgesamt 36 (jetzt: 48) Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten hat.
Normenkette
AsylbLG § 2 Abs. 1, § 3; SGB XII § 22 Abs. 1; BaföG § 12 Abs. 1 Nr. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 14.12.2006 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen ab Antragstellung am 01.12.2006 bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) anstelle der gewährten Leistungen nach § 3 AsylbLG zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen für beide Rechtszüge.
Gründe
I.
Die Antragstellerinnen sind Staatsangehörige des Benin. Die Antragstellerin zu 1) lebt seit 1987 in der Bundesrepublik Deutschland; die Antragstellerinnen zu 2) und 3) (Töchter der Antragstellerin zu 1) sind in Deutschland geboren. Die Antragstellerinnen besitzen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Die Antragstellerin zu 1), die in ihrem Herkunftsland den Beruf einer PC-Datenverarbeiterin erlernt hat, ist derzeit vier Stunden täglich als Reinigungskraft tätig. Die Antragstellerin zu 2) besucht die MTA-Schule der Universitätsklinik C; insoweit bezieht sie eine Förderung nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in Höhe von monatlich 192,00 EUR. Die Antragstellerin zu 3) besucht die 10. Klasse der Realschule. Die Antragstellerin zu 1) hat sich im Mai 2006 von ihrem Ehemann und Vater der Antragstellerinnen zu 2) und 3) getrennt. Der Ehemann/Vater bezieht mittlerweile eine Rente; er leistet monatlich insgesamt 55,35 EUR Unterhalt für die Antragstellerinnen.
Der Lebensunterhalt der Antragstellerinnen wurde in den vergangenen Jahren durch die Erwerbstätigkeit des Ehemannes/Vaters bis zu dessen Kündigung im Jahre 2002 sichergestellt. Anschließend erhielt die Familie zunächst Arbeitslosengeld und anschließend Arbeitslosenhilfe. In der Zeit vom 01.01.2005 bis 30.04.2006 bezog die Familie (zu Unrecht) Leistungen für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II); zum 01.05.2006 wurde diese Leistung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II wegen Leistungsberechtigung der Antragstellerinnen nach dem AsylbLG eingestellt. Seit dem 01.05.2006 beziehen die Antragstellerinnen von der Antragsgegnerin Leistungen nach § 3 AsylbLG. Mit Widerspruch vom 14.11.2006 gegen den Bescheid vom 19.10.2006 begehrten die Antragstellerinnen an Stelle dieser Leistungen solche nach § 2 AsylbLG. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.2006 zurückgewiesen; die Antragstellerinnen erhoben hiergegen Klage vor dem Sozialgericht Köln, die dort unter dem Akten S 13 AY 7/06 anhängig ist.
Mit einem am 01.12.2006 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag haben die Antragstellerinnen höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG begehrt. Zwischen den Beteiligten ist einzig streitig, ob für den Bezug dieser höheren Leistungen eine 36-monatige Bezugsdauer allein von Leistungen nach § 3 AsylbLG Voraussetzung ist, oder ob § 2 AsylbLG dahingehend auszulegen ist, dass auch das eigene Erwirtschaften des Lebensunterhalts bzw. der Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe durch den Ehemann/Vater geeignet ist, diese Frist von 36 Monaten aufzufüllen.
Mit Beschluss vom 14.12.2006 hat das Sozialgericht, das zuvor mit Beschluss vom 13.12.2006 den Antragstellerinnen Prozesskostenhilfe bewilligt hatte, den Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin zu 2) habe bereits keinen Anordnungsanspruch, da sie wegen Bezugs von Leistungen nach dem BAföG nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. § 22 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) von Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen sei. Im Übrigen stehe sämtlichen Antragstellerinnen kein Anordnungsgrund zur Seite. Zwar könne nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen der Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG nicht mit der Begründung abgelehnt werden, es bestehe kein Anordnungsgrund, wenn der Anordnungsanspruch bei summarischer Prüfung nicht zweifelhaft sei. Diese Rechtsprechung überzeuge jedoch nicht, weil sie dem gesetzlich vorgesehenen Erfordernis des Anordnungsgrundes keine eigenständige Bedeutung mehr...