Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlängerte Wartefrist für Untätigkeitsklage
Leitsatz (redaktionell)
Inwieweit die Beteiligten des Rechtsstreits einander Kosten zu erstatten haben, ist nach billigem Ermessen zu beurteilen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist dabei das Veranlassungsprinzip.
Bei einer Untätigkeitsklage stellt die dreimonatige Wartefrist des § 88 SGG eine angemessene Frist für eine Sachentscheidung der Behörde dar. Diese gilt für den Normalfall. Im Ausnahmefall ist sie um denjenigen Zeitraum zu verlängern, der im konkreten Fall für eine vom Normalfall abweichende Sachbehandlung erforderlich ist.
Durfte der Kläger aufgrund besonderer Umstände vor Ablauf der Wartefrist nicht mit einer Entscheidung des beklagten Sozialversicherungsträgers rechnen, so hat dieser die außergerichtlichen Kosten des Klägers nicht zu erstatten, weil er die Klageerhebung nicht veranlasst hat.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.09.2002 wird zurückgewiesen.
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet, weil das Sozialgericht (SG) im Ergebnis zur Recht entschieden hat, dass Kosten nicht zu erstatten sind.
Es kann unentschieden bleiben, ob die Kostenentscheidung hier auf § 102 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) oder auf § 193 Abs 1 Satz 3 SGG (in der Fassung vom 30. März 1998, BGBl I S 638) beruht, da nach beiden Vorschriften gerichtlich nach billigem (sachgemäßen) Ermessen zu beurteilen ist, inwieweit die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben (vgl dazu Bundessozialgericht (BSG) E 6, 92, 93; 8, 178, 181; 14, 25, 26 sowie Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Auflage 2002, § 193 Rdnr 12), wobei der Sach- und Streitstand zur Zeit der Erledigung zu berücksichtigen ist (Meyer-Ladewig aaO, Rdnrn 12 und 13; Zeihe, Das Sozialgerichtsgesetz und seine Anwendung, 8. Auflage, Stand Oktober 2002, Anmerkung 7a zu § 193). Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Frage der Kostenerstattung ist damit das Veranlassungsprinzip (Zeihe aaO), d. h. es ist darauf abzustellen, welchen Beteiligten die Durch- bzw. Fortführung des Klageverfahrens zuzurechnen ist.
Hiernach wird es in der Regel der Billigkeit entsprechen, wenn derjenige Kosten zu erstatten hat, der im Prozess - voraussichtlich - unterlegen wäre (BSG SozR Nr 4 zu § 193 SGG). Die allein am mutmaßlichen Prozessausgang orientiere Betrachtungsweise ist jedoch nicht in allen Fällen angemessen, da nach dem Veranlassungsprinzip auch immer mit zu berücksichtigen ist, ob und ggf. inwieweit der beklagte Sozialleistungsträger - keine - Veranlassung zur Klageerhebung geboten hat (Peters/Sautter/ Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Auflage, Stand April 2001, § 193 III/109 -60, 61-). Unentschieden bleiben kann, ob zur weiteren Begründung dieses der Billigkeit entsprechenden Grundsatzes auf § 93 der Zivilprozessordnung (ZPO) zurückzugreifen ist (vgl. hierzu Meyer-Ladewig, aaO, Rdnr 12 einerseits und LSG NRW 1987, 1360 [LS] andererseits). Danach kann ausnahmsweise auch eine im Zeitpunkt der Erledigung nicht begründete Klage dann zu einer Kostenerstattungspflicht des beklagten Sozialleistungsträges führen, wenn und soweit dieser zur Durchführung des Klageverfahrens aus anderen Gründen veranlasst hat (Landessozialgericht Nordrhein Westfalen (LSG NRW) Beschlüsse vom 22.02.2002, Aktenzeichen (Az) L 2 B 8/01 U; vom 21.03.2001, Az L 2 B 24/00 KN-U; vom 15.09.1999, Az L 6 B 24/99 SB; vom 21.12.1998, Az L 6 B 14/98 SB, und vom 12.09.1994, Az L 6 S 9/94, jeweils mwN).
Danach gilt vorliegend das Folgende:
Die am 15. März 2002 erhobene Untätigkeitsklage war zunächst unzulässig, da im Zeitpunkt der Klageerhebung die dreimonatige Wartefrist, die mit der Einlegung des Widerspruchs am 28.12.2001 begonnen hatte, noch nicht abgelaufen war, § 88 Abs. 2 SGG in der neuen, seit dem 02.01.2002 geltenden Fassung (im Folgenden: nF) des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. Sozialgerichtsgesetz-Änderungsgesetz - SGGÄndG).
Auch wenn - worauf die Klägerin zu Recht hinweist - ihr Widerspruch bereits am 28.12.2001 bei der Beklagten eingegangen ist, richtet sich die Bestimmung der für die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage maßgeblichen Wartefrist hier bereits nach § 88 Abs 2 nF. Denn diese Vorschrift ist zum 02.01.2002 in Kraft getreten, Art. 19 Satz 3 6. SGGÄndG, ohne dass gleichzeitig Übergangsregelungen beschlossen wurden (Umkehrschluss aus Art 17 Abs 2 6. SGGÄndG). Mit seinem Inkrafttreten beansprucht ein Gesetz, an Stelle des alten, zuvor geltenden Rechts alle einschlägigen Sachverhalte zu gestalten (BSG SozR 3-2600 § 301 Nr 3 mwN, insbesondere unter Hinweis auf BVerfGE 42, 263, 283). Ob etwas anderes gilt, wenn die einmonatige Wartefrist des § 88 Abs 2 SGG a.F. im Zeitpunkt des Inkrafttreten bereits abgelaufen war, kann unentschieden bleiben. Denn hier wurde das laufende Widerspruchsverfahren mit Inkrafttreten des § 88 Abs. 2 nF SGG von dieser Vorschrift erfasst, wodurch sich die für die Beklagte ursprünglich maßgebliche einmonatige Bearbeitungs...