Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Entscheidung über Prozesskostenhilfeantrag erst nach einer vom Gericht angenommenen Verfahrensbeendigung durch Klagerücknahmefiktion. fehlende Erfolgsaussichten. wirksame Klageerhebung. Nichtmitteilung einer ladungsfähigen Anschrift. Postfachadresse

 

Orientierungssatz

1. Vor der Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag kann einem Beteiligten das Betreiben des Gerichtsverfahrens nicht aufgegeben werden.

2. Die Klagerücknahmefiktion dient nicht der Sanktionierung eines Verstoßes gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder des unkooperativen Verhaltens eines Beteiligten. Sie soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren.

3. Zu den zwingenden Bestandteilen einer wirksamen Klageerhebung bei Gericht gehört es nach § 92 Abs 1 S 1 SGG eine ladungsfähige Anschrift des Klägers zu benennen. Prozesskostenhilfe ist daher wegen fehlender Erfolgsaussichten abzulehnen, wenn der Kläger lediglich eine Postfachadresse oder "postlagernd" angegeben hat.

 

Normenkette

SGG § 54 Abs. 2, 4, § 73a Abs. 1 S. 1, § 92 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 102 Abs. 2 S. 1; ZPO §§ 114, 118 Abs. 2 S. 4; GG Art. 19 Abs. 4; SGB I § 66

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 01.06.2015 wird zurückgewiesen.

 

Gründe

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend die hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung i.S.v. § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO verneint.

1. Ausgehend vom Standpunkt des Sozialgerichts, dass das Verfahren aufgrund der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 S. 1 SGG beendet ist, verletzt die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag erst nach Ablauf der Frist des § 102 Abs. 2 S. 1 SGG und bei angenommener Erledigung des Verfahrens allerdings den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (vgl. hierzu Beschluss des BSG vom 04.12.2007 - B 2 U 165/06 B). Im Hinblick auf die vom Bundesverfassungsgericht betonte Funktion der Prozesskostenhilfe, den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz zugänglich zu machen, ist es grundsätzlich nicht zulässig, das Hauptsacheverfahren abzuschließen, ohne zuvor über einen Prozesskostenhilfeantrag zu entscheiden. Das gilt auch für die Anwendung der Vorschriften über die Klagerücknahmefiktion.

Ist der Prozesskostenhilfeantrag - wie im vorliegenden Fall wegen Nichtvorlage einer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - noch nicht bewilligungsreif (vgl. zum Begriff der Bewilligungsreife BVerfG, Beschluss vom 14.04.2010 - 1 BvR 362/10), muss ggf. zuerst eine Frist nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 118 Abs. 2 S. 4 ZPO zur Glaubhaftmachung der Angaben zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, zur Substantiierung des Prozesskostenhilfeantrags oder Beantwortung bestimmter Fragen gesetzt werden. Erst bei fruchtlosem Verstreichen der Frist ist der Prozesskostenhilfeantrag abzulehnen. Auch kann vor der Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag einem Beteiligten das Betreiben des Gerichtsverfahrens nicht aufgegeben werden (Beschluss des Senats vom 20.11.2013 - L 19 AS 1186/13 B; so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2013 - L 5 KR 605/12). Die vom Sozialgericht angenommene Beendigung des Verfahrens durch eine Klagerücknahmefiktion schließt damit eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht aus.

2. Ohnehin ist fraglich, ob das Verfahren nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG beendet worden ist. Es bestehen Zweifel, ob die Voraussetzungen für eine Rücknahmefiktion vorgelegen haben (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 - 1 BvR 2254/11; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2013 - L 5 KR 605/12). Die Rücknahmefiktion greift in das (Prozess-)Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Zwar ist dies grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschlüsse vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 und vom 17.09.2012 - 1 BvR 2254/11) darf ein Gericht im Einzelfall (erst dann) von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Für eine Betreibensaufforderung i.S.v. § 102 Abs. 2 S. 1 SGG genügt dagegen bereits das Unterlassen einer Mitwirkungshandlung, die für die Feststellung entscheidungserheblicher Tatsachen bedeutsam und nach der Rechtsansicht des Gerichts notwendig ist, um den Sachverhalt zur Entscheidungsreife aufzuklären (BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 74/09 R). Der Gesetzgeber nimmt insoweit auf die sich aus § 103 SGG ergebenden Mitwirkungspflichten Bezug (BR-DRs. 820/07, S. 24). § 102 Abs. 2 SGG dient dabei nicht der Sanktionierung eines Verstoßes gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder des unkooperativen Verhaltens eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion soll nur d...

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