Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen. Aufforderung zur Beantragung einer vorgezogenen Altersrente. Ermessensentscheidung. Sachverhaltsaufklärung. Klärung der zu erwartenden Rentenhöhe

 

Orientierungssatz

Ein rechtmäßiger Ermessensgebrauch setzt unter anderem voraus, dass alle maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte in die Entscheidung miteinbezogen wurden. Verpflichtend ist deshalb vor Erlass des Verwaltungsaktes eine Aufklärung des Sachverhalts im für die rechtmäßige Ausübung von Ermessen notwendigen Umfang. Daran fehlt es, wenn vor Erlass einer Aufforderung zur Rentenantragstellung die für die Ermessensausübung wichtige Klärung der zu erwartenden Rentenhöhe nicht erfolgt ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 03.07.2020 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 17.03.2020 gegen den Bescheid vom 02.01.2020 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin hat auch in der Sache Erfolg.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Weitere Kriterien für die Anwendung dieser gerichtlichen Anordnungsbefugnis sind gesetzlich nicht geregelt. Sie sind durch Auslegung zu gewinnen. Diese ergibt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage Ergebnis einer Interessenabwägung ist. Die aufschiebende Wirkung eines solchen Rechtsbehelfs ist anzuordnen, wenn im Rahmen der Interessenabwägung dem privaten Aufschubinteresse gegenüber dem öffentlichen Interesse einer sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gebührt. Bei dieser Interessenabwägung ist insbesondere die - nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zu bewertende - Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Ferner ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in Fällen des § 86 a Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGG das Entfallen der aufschiebenden Wirkung angeordnet und damit grundsätzlich ein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes geregelt hat (vgl. Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen [NRW], Beschluss vom 01.06.2015, Az.: L 2 AS 730/15 B, bei juris Rn. 5). Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im konkreten Fall ein überwiegendes privates Aufschubinteresse feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (LSG NRW, Beschluss vom 09.12.2013, Az.: L 2 AS 1956/13 B ER, bei juris Rn. 3). Eine solche Ausnahme liegt dann vor, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, denn ein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte besteht nicht. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist die aufschieben de Wirkung regelmäßig nicht anzuordnen. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung durchzuführen. Dabei sind auch die grundrechtlichen Belange des Antragstellers in die Abwägung einzustellen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05, bei juris Rn. 26; siehe auch LSG NRW, Beschluss vom 01.06.2015, Az.: L 2 AS 730/15 B, bei juris Rn. 5).

Der Widerspruch der Antragstellerin vom 17.03.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 02.01.2020 hat gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 2 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung.

Der auf Anordnung derselben gerichtete Antrag hat Erfolg, weil sich die Aufforderung zur Rentenantragstellung jedenfalls nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung als wirksam angefochten und derzeit rechtswidrig erweist. Bei der Aufforderung handelte sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 des Sozialgesetzbuches 10. Buch (SGB X) [siehe dazu Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 19.08.2015 zum Aktenzeichen B 14 AS 1/15 R - Rn. 12 der Wiedergabe bei juris]. Diesen Verwaltungsakt hat die Antragstellerin auch wirksam angefochten. Zwar erfolgte der Widerspruch nicht binnen Monatsfrist, da der angefochtene Verwaltungsakt jedoch nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen war, greift statt der Monatsfrist die (hier gewahrte) Jahresfrist (siehe § 84 i.V.m. § 66 SGB X).

Rechtsgrundlage für den mithin wirksam angefochtenen Bescheid sind § 12a und § 5 Abs. 3 SGB II, deren Regelungen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (siehe dazu BSG aaO. zur Rn. 15 bei juris) keinen Anlass für verfassungsrechtliche Bedenken bieten. Die am 29.03.1957 geborene Antragstellerin hat zwischenzeitlich das 63. Lebensjahr vollendet und ist nach der Wertung des Gesetzgebers damit grundsätzl...

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