Entscheidungsstichwort (Thema)

Bildung des Gesamtgrades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht

 

Orientierungssatz

1. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft vor, so wird der Gesamtgrad der Behinderungen im Schwerbehindertenrecht gemäß § 69 Abs. 3 S. 1 SGB 9 nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

2. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder bedingungslos nebeneinander stehen.

3. Nach Ziff. 3. 6 VersMedV sind affektive Psychosen mit kurz andauernden, aber häufig wiederkehrenden Phasen bei ein bis zwei Phasen im Jahr von mehrwöchiger Dauer je nach Ausprägung mit einem GdB von 30 bis 50 zu bewerten. Sind die wiederkehrenden depressiven Episoden leicht ausgeprägt und ist es innerhalb von zwei Jahren zu einer mittelgradig schweren depressiven Episode gekommen, so ist ein höherer GdB als 40 nicht gerechtfertigt.

4. Weiter bestehende Funktionsbeeinträchtigungen sind bei der Bildung des Gesamt-GdB nicht zu berücksichtigen, wenn diese jeweils nur mit einem GdB von 10 zu bewerten sind.

 

Normenkette

SBG IX § 69 Abs. 1 S. 4, Abs. 3 S. 1; VersMedV Ziff. 3.6; SGB IX § 69 Abs. 3 S. 1; VersMedV Ziff 3.6

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 22.06.2015; Aktenzeichen B 9 SB 72/14 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid vom 24.02.2012 und die Bescheide vom 30.05.2005, 29.05.2006 und 03.08.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.11.2007 geändert. Der Beklagte wird entsprechend seinem Teilanerkenntnis verurteilt, bei der Klägerin ab 13.09.2006 einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines GdB von 90.

Die 1949 geborene Klägerin ist vom Beruf Grundschullehrerin. Am 13.09.2005 beantragte sie die Feststellung eines GdB. Sie leide unter schnellen Erschöpfungszuständen nach schweren Depressionen bei Stress, Konzentrationsstörungen, einer leichten Gehbehinderung durch Arthrose im linken Knie und linken Zeh sowie stärkerer Abnutzung des rechten Schultergelenks. Das Versorgungsamt E holte daraufhin Befundberichte des Orthopäden Dr. I vom 19.09.2005, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G vom 27.09.2005 und der Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, Neurologie und Psychiatrie Dr. W vom 11.11.2005 ein. Mit Bescheid vom 30.11.2005 stellte es einen GdB von 30 bei folgenden Gesundheitsstörungen fest:

1. Depressionen

2. Degenerative Wirbelsäulenveränderungen, HWS-Syndrom

3. Chronische Gastritis

4. Schulter-Arm-Syndrom bds., Verschleiß der Daumengrundgelenke

Zur Begründung des hiergegen am 27.12.2005 eingelegten Widerspruchs trug die Klägerin vor, die Auswirkungen ihrer depressiven Erkrankung seien nicht hinreichend berücksichtigt. Sie habe inzwischen den Amtsarzt zwecks Klärung ihrer Arbeitsfähigkeit aufgesucht. Es sei festgestellt worden, dass sie nur noch 22 statt 28 Wochenstunden arbeiten könne. Die Verminderung der Leistungsfähigkeit und schnelle Erschöpfbarkeit sei eine gesetzliche Schwerbehinderung. Der GdB sei mit 90 bis 100 zu bemessen. Sie übersandte außerdem ein amtsärztliches Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N vom 09.01.2006, wonach sie unter einer bipolaren affektiven Störung leide und zum Zeitpunkt der Begutachtung eine Teildienstfähigkeit von 22 Unterrichtsstunden nicht überschritten werden könne. Mit Abhilfebescheid vom 29.05.2006 stellte die Beklagte einen GdB von 50 fest und legte hierbei abweichend vom Vorbescheid einen Einzel-GdB von 50 für die bei der Klägerin vorliegenden Depressionen zugrunde. Die Klägerin hielt ihren Widerspruch aufrecht. Das Versorgungsamt veranlasste daraufhin die Erstellung eines fachpsychiatrischen Gutachtens durch Herrn L1 vom 29.08.2006. Dieser vertrat die Auffassung, bei der Klägerin lägen depressive Beschwerden, vor allen Dingen asthenische Störungen vor, für welche ein Einzel-GdB von 30 angemessen erscheine. Mit Bescheid vom 03.08.2007 nahm das Versorgungsamt nach entsprechender Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 10.10.2006 den Bescheid vom 29.05.2006 zurück und stellte einen GdB von 30 fest. Hiergegen legte die Klägerin am 11.09.2007 Widerspruch ein und wies zur Begründung nochmals darauf hin, dass sie sechs Unterrichtsstunden pro Woche nicht abhalten könne. Dies bedinge einen GdB von 90 bis 100, um ihr wenigstens vier Ermäßigungsstunden nach Maßgabe des Schulgesetzes NRW zukommen zu lassen. Es gehe nicht an, dass ihr die Inanspruchnahme von Ermäßigungsstunden verwehrt werde. Die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit seien durch Parlament und Gesetzgeber nicht legitimiert und nur bedingt mit dem Sinn und Zweck der §§ 2, 69 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vereinbar. Sie entbehrten einer wissenschaftlichen Grundlage, seien in vi...

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