Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Einschränkung der Orientierungsfähigkeit. bipolare affektive Psychose. GdB unter 80. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Verordnungsermächtigung. Nachteilsausgleich
Orientierungssatz
1. Eine bipolare affektive Psychose kann zwar in akuten schweren depressiven Phasen zu einer ausgeprägten Antriebslosigkeit führen bzw durch ausgeprägte Phobien die Bewegungsfähigkeit einschränken. Eine Einschränkung der Orientierungsfähigkeit ist damit jedoch nicht verbunden (so auch BSG vom 10.5.1994 - 9 BVs 45/93).
2. Bei einem Grad der Behinderung (GdB) unter 80 kommt eine Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr iSd §§ 145, 146 SGB 9 nur in besonders gelagerten Fällen vor (hier verneint).
3. Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich G (Anlage zu § 2 VersMedV) sind mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig (vgl LSG Stuttgart vom 23.7.2010 - L 8 SB 3119/08, vom 14.8.2009 - L 8 SB 1691/08 = Breith 2010, 169 und LSG Essen vom 16.12.2009 - L 10 SB 39/09 = SozialVerw 2010, 8).
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 4, § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1; VersMedV § 2; BVG § 30 Abs. 17
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. Dezember 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) streitig.
Der 1966 geborene Kläger stellte am 18.07.2011 beim Landratsamt E. den Erstantrag nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Er legte ein vom Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie Dr. A. am 26.08.2009 erstattetes nervenärztliches Gutachten sowie ein von Dr. S. für den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit E. am 02.08.2011 erstattetes psychiatrisches Gutachten vor. In Letzterem wird die Diagnose einer bipolaren affektiven Störung, derzeit gemischt mit ausgeprägter Residual-Symptomatik, gestellt. Der behandelnde Facharzt für Psychiatrie Dr. B. teilte im ärztlichen Befundbericht vom 16.09.2011 mit, beim Kläger bestehe eine Erkrankung aus dem bipolaren Spektrum. Aktuell werde die Symptomatik durch eine massive psychosoziale Belastung aufrechterhalten.
Gestützt auf die gutachtliche Stellungnahme der Ärztin G. vom 04.11.2011 stellte das Landratsamt E. mit Bescheid vom 16.11.2011 den GdB des Klägers mit 60 seit 18.07.2011 fest. Gesundheitliche Merkmale (Merkzeichen) seien nicht festzustellen.
Den hiergegen mit der Begründung eingelegten Widerspruch, das Merkzeichen “G„ sei festzustellen, da er wegen immer wieder auftretender geistiger Aussetzer sowie Orientierungslosigkeit in seiner Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sei, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.05.2012 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 05.06.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Das SG hat Dr. B. als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat unter dem 14.08.2012 mitgeteilt, beim Kläger bestehe eine bipolare Erkrankung. Dieses Krankheitsbild sei durch den Wechsel von depressiven und manischen Phasen gekennzeichnet. Daneben gebe es auch Phasen mit völliger Beschwerdefreiheit. Die Erkrankung sei in der Regel nicht durch eine Einschränkung der Gehfähigkeit gekennzeichnet. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, es sei zutreffend, dass seine Gehfähigkeit an sich nicht beeinträchtigt sei. Es bestünden jedoch Zustände “zeitweiliger Orientierungslosigkeit„, verbunden mit einem Schockzustand, in denen er nicht mehr wisse, wo er sei und ihm deshalb auch keinerlei Bewegungen mehr möglich seien. In der ergänzenden Stellungnahme vom 11.09.2012 hat Dr. B. hierzu ausgeführt, im Allgemeinen sei bei der Erkrankung des Klägers die Orientierungsfähigkeit nicht eingeschränkt. Es sei jedoch denkbar, dass es im Rahmen einer schweren depressiven Phase zu einer ausgeprägten Antriebslosigkeit komme, da der Betroffene nicht mehr in der Lage sei, das Haus zu verlassen oder dass seine Bewegungsfähigkeit durch ausgeprägte Phobien eingeschränkt sei. Der Kläger sei jedoch noch nie in einem solchen Zustand angetroffen worden. Weiter vorgelegt wurde ein ärztlicher Befundbericht des Dr. B., wonach aufgrund der Gesamtsituation eine stationäre Behandlung derzeit nicht indiziert sei. Der Kläger hat sodann eine Bescheinigung von Dr. C. vom G. D. M. und W. C., P., vom 14.11.2012 vorgelegt, wonach sich der Kläger derzeit dort in stationärer Behandlung befinde und das Krankenhaus ohne Begleitperson nicht verlassen könne.
Mit Gerichtsbescheid vom 17.12.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Es lägen weder Anhaltspunkte für eine körperliche Erkrankung des Klägers vor, die sich auf das Gehvermögen nachteilig auswirkten, noch sei nachgewiesen, dass das Gehvermögen...