Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto als Beitragszeit
Orientierungssatz
1. Die Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit i. S. des ZRBG setzt u. a. voraus, dass die im Ghetto gegen Entgelt ausgeübte Beschäftigung durch eigenen Willensentschluss zustande gekommen ist. Arbeiten auch außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos werden dabei vom ZRBG erfasst, wenn sie Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto waren.
2. Für den Begriff der Entgeltlichkeit ist entscheidend, ob das erhaltene Entgelt dazu ausreichte, neben dem Arbeitenden selbst auch mindestens eine weitere Person über einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Reichte eine gewährte Zusatzration nur dazu aus, um den eigenen Kalorienmehrbedarf als Arbeiter zu decken, ist eine Entgeltlichkeit zu verneinen.
3. Eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ist zu bejahen, wenn sich der Betroffene selbst beim örtlichen Judenrat um die Arbeit bemüht hat, um so für den Familienunterhalt etwas verdienen zu können.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10. März 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind zwischen den Beteiligten auch für den Berufungsrechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Regelaltersrente nach Maßgabe des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), das der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 einstimmig erlassen hat (Bundesgesetzblatt - BGBl - Teil I 2074).
Der Kläger wurde 1924 in Kaunas geboren. Vor dem Krieg absolvierte er in Litauen eine Schweißerlehre. Er war 17 Jahre alt, als die Deutschen die Sowjetunion angriffen. Sein Vater wurde vom Überfall der Deutschen auf einer Geschäftsreise im Ort Kedenai überrascht. Ihm gelang es, nach Kasachstan zu flüchten. Zusammen mit seinen beiden Schwestern und der Mutter blieb der Kläger in L zurück.
Die deutschen Truppen erreichten Kaunas am 24. Juni 1941. Bereits am Tag darauf fanden die ersten Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt. Bereits in diesen ersten Tagen betrug die Zahl der jüdischen Opfer mehrere Tausend Menschen, fast ausschließlich Männer. Die alten zaristischen Forts Nr. VII und IX dienten als Lager und Erschießungsstätten. Am 8. Juli wurde Vertretern der jüdischen Bevölkerung durch die Sicherheitspolizei mitgeteilt, alle Juden hätten bis zum 15. August 1941 zum Schutz vor den litauischen Partisanen in ein Ghetto umzuziehen. In Vilijampol&279;, in dem zuvor 16.000 Menschen in relativ primitiven Verhältnissen gelebt hatten (keine Kanalisation usw.), wurden nun 30.000 Juden in zwei Ghettos, die durch eine Brücke verbunden waren, zusammengezogen. Die meisten Menschen im Ghetto stammten aus Kaunas, das eine große jüdische Gemeinde besessen hatte, und aus den umliegenden Regionen. Nach den Aktionen im Herbst 1941 lebten ca. 17.000 Menschen im Ghetto. Die Frauen befanden sich in der Überzahl, da mehr Männer ermordet worden waren. Unter diesen Frauen gingen nicht alle einer Arbeit nach (viele waren junge Mütter). Vor allem die Kinder und die Älteren waren immer von Selektionen bedroht, weswegen der Judenrat vermied, den deutschen Behörden die exakten Zahlen zu geben.
Auch nach der Ghettoisierung kam es zu fortgesetzten Plünderungen und ersten Massenmorden wie der Erschießung von 534 Intellektuellen am 18. August 1941. Weitere große Mordaktionen fanden zwischen Ende September und Ende Oktober 1941 statt. In diesem Zusammenhang wurde auch das kleine Ghetto geräumt. Der Höhepunkt der Aktionen wurde dann am 28. Oktober 1941 erreicht, als die gesamte Ghettobevölkerung auf einem Platz antreten musste. Vertreter der Sicherheitspolizei und des Arbeitsamtes nahmen die Selektion vor, wobei die entscheidenden Kriterien die physische Arbeitsfähigkeit, besondere handwerkliche Fähigkeiten oder Funktionen (Judenrat, Ghettopolizei usw.) waren. Ca. 9.200 Menschen wurden als nicht mehr nützlich in den folgenden Tagen im IX. Fort ermordet. Damit war der Höhepunkt der Mordwelle überschritten, und es begann die ruhige Phase im Ghetto, die durch den Aufbau einer Art von Infrastruktur durch den Judenrat und die Ausnutzung der jüdischen Arbeitskraft durch deutsche Behörden und Einrichtungen gekennzeichnet war. Der deutsche Stadtkommandant Cramer wurde dabei durch seinen persönlichen "(Juden-)Referenten" Jordan unterstützt. Dieser unterhielt eine eigene Arbeitsbrigade (sog. "Jordan-Brigade") und gab dazu Bescheinigungen aus, die bei Selektionen einen gewissen Schutz boten (sog. "Jordan-Scheine"). Der Judenrat nahm im Übrigen alle Aufgaben der inneren Verwaltung des Ghettos wahr und fungierte als Exekutive. Ihm oblagen die Stellung der von den deutschen Behörden angeforderten jüdischen Arbeitskräfte, die Verteilung des immer knappen Wohnraumes, soziale Hilfsmaßnahmen, die Verteilung der Nahrung usw. Vorsitzender war der Arzt Elchanan Elkes, der bis zum Ende des Ghettos Vor...