Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ersatzanspruch wegen sozialwidrigem Verhalten. wichtiger Grund. Aufgabe eines ausländischen Arbeitsverhältnisses zwecks Einreise nach Anerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. verfassungskonforme Auslegung. Ausübung des Grundrechts auf Freizügigkeit
Orientierungssatz
Für die Eigenkündigung von Arbeitsverhältnissen im Ausland zwecks Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nach Anerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit können sich Leistungsberechtigte auf einen wichtigen Grund im Sinne des § 34 Abs 1 S 1 SGB 2 berufen, sodass ein Ersatzanspruch wegen sozialwidrigem Verhalten ausscheidet.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27.04.2017 aufgehoben.
Die Bescheide vom 27.01.2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.02.2016 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung einer Ersatzpflicht nach § 34 SGB II dem Grunde nach.
Die 1983 geborene Klägerin zu 1) ist seit 2010 mit dem 1979 geborenen Kläger zu 2) verheiratet. Der Kläger zu 2) besitzt die polnische Staatsangehörigkeit. Das Ehepaar hat zwei gemeinsame Kinder (geboren 2009 und 2011).
Am 09.12.2013 ging beim Bundesverwaltungsamt ein Antrag der Klägerin zu 1) zur Feststellung ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ein. Mit Bescheid vom 29.04.2015 stellte das Bundesverwaltungsamt die deutsche Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 1) und ihrer beider Kinder fest.
Die Kläger waren bis zum 16.10.2015 in Polen abhängig beschäftigt. Sie kündigten die Arbeitsverhältnisse zum 16.10.2015 wegen einer geplanten Ausreise in die Bundesrepublik. Am 19.10.2015 reisten die Kläger mit ihren beiden Kindern in die Bundesrepublik ein.
Seit dem 16.06.2017 übt der Kläger zu 2) eine abhängige Beschäftigung als Kraftfahrer in Vollzeit aus. Die Klägerin zu 1) übt seit dem 27.10.2017 eine geringfügige Beschäftigung aus.
Am 21.10.2015 beantragte der Kläger zu 2) für sich und seine Familienangehörigen die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.
Mit Bescheid vom 01.12.2015 bewilligte der Beklagte den Klägern und ihren beiden Kindern Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für Oktober 2015 i.H.v. 360,69 EUR, für die Zeit vom 01.11.2015 bis 31.12.2015 i.H.v. 1.221,00 EUR monatlich sowie für die Zeit vom 01.01.2016 bis zum 31.03.2016 i.H.v. 1.235,00 EUR monatlich. Zum 01.12.2015 mieteten die Kläger eine Wohnung an. Mit Änderungsbescheid vom 07.12.2015 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen für Dezember 2015 i.H.v. 1.794,00 EUR sowie für die Zeit vom 01.01.2016 bis 31.03.2016 i.H.v. 1.808,00 EUR monatlich. Mit Änderungsbescheid vom 15.02.2016 bewilligte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft Grundsicherungsleistungen für März 2016 i.H.v. 1.428,00 EUR.
Mit zwei Schreiben vom 09.12.2015 hörte der Beklagte die Kläger zur Geltendmachung eines Ersatzanspruches bei sozialwidrigen Verhalten an. Nach seiner Kenntnis hätten die Kläger ihre und die Hilfebedürftigkeit ihrer Kinder möglicherweise vorsätzlich oder grobfahrlässig sowie ohne wichtigen Grund herbeigeführt. Sie hätten ihre Arbeitsplätze in Polen gekündigt, um nach Deutschland einzureisen und Sozialleistungen zu beziehen. Die Einreise sei ohne konkrete Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle sowie in der Absicht erfolgt, in Deutschland einen verbesserten Lebensstandard zu erreichen. Die Klägerin zu 1) sowie die Kinder besäßen die deutsche Staatsangehörigkeit, so dass lediglich auf den Tatbestand der Eigenkündigung der Arbeitsstelle abgestellt werde.
Mit Schreiben vom 16.12.2015 teilte der damalige Bevollmächtigte der Kläger mit, diese seien nach Deutschland in dem Bewusstsein ausgereist, dass sie nicht umgehend einen Arbeitsplatz finden und somit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen angewiesen sein würden. Inwieweit es ihnen verwehrt sein solle, nach Deutschland einzureisen, einen Wohnsitz zu nehmen und zu versuchen, in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen, erschließe sich den Klägern nicht. Deutsche Staatsangehörige seien nicht verpflichtet, ihren Lebensunterhalt durch Beibehaltung eines Arbeitsplatzes im Ausland sicherzustellen. Gerade weil die deutsche Staatsangehörigkeit für die Klägerin zu 1) und die gemeinsamen Kinder gegeben sei, sei es selbstverständlich, dass die Familie vollständig nach Deutschland übersiedele, hier ihren Lebensmittelpunkt nehme und in absehbarer Zeit versuche, durch Aufnahme einer Tätigkeit von staatlicher Unterstützung unabhängig zu werden. Der Kläger zu 2) sei in Besitz seiner Unterlagen bezüglich seiner zuletzt in Polen ausgeübten Tätigkeit als Automechaniker sowie in Besitz sämtlicher Fahrererlaubnisklassen, so dass er auch als Lkw-Fahrer, Busfahrer etc. eine Tätigkeit aufnehmen könne. Aktuell verhinderten die Sprachschwierigkeiten eine kurzfristige Aufnahme einer Berufs...