Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung gezahlter BAfög-Leistungen bei der Entscheidung des Grundsicherungsträgers über die Hilfebedürftigkeit des Grundsicherungsberechtigten
Orientierungssatz
1. Nach § 11 Abs. 1 SGB 2 sind solche Einnahmen als Einkommen anzusehen, die einen Zuwachs von Mitteln bedeuten, der dem Hilfebedürftigen zur endgültigen Verwendung verbleibt. Entscheidend für die Privilegierung von bestimmten Zuflüssen ist, dass zu dem Zeitpunkt, in dem die Einnahme als Einkommen berücksichtigt werden soll, der Zufluss bereits mit einer wirksamen Rückzahlungsverpflichtung belastet ist (BSG Urteil vom 17. 6. 2010, B 14 AS 46/09 R).
2. Ein auf einer bindenden Bewilligung begründeter Bezug von BAföG-Leistungen ist rechtmäßig, solange der Bewilligungsbescheid besteht.
3. Eine Rückzahlungsverpflichtung, die für die Bestimmung der Hilfebedürftigkeit allein maßgeblich ist, tritt erst mit Aufhebung der Bewilligungsentscheidung ein.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 21.07.2020 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Berufung gegen einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts, das die Klage auf höhere Leistungen für Mai und Juni 2019 abgewiesen hat.
Die 1998 geborene Klägerin bezieht seit 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Zuvor war sie von Juni 2016 bis Mitte Mai 2017 im Jugendhilfezentrum N stationär nach § 34 SGB VIII untergebracht. Sie lebt seit Mai 2017 in einer Mietwohnung in der X-Straße 00 in N. Ausweislich einer Bescheinigung des Jugendamtes Wuppertal vom 18.01.2017 war eine Rückkehr der Klägerin in den elterlichen Haushalt wegen schwerwiegender sozialer Gründe iSv § 22 Abs. 5 SGB II nicht möglich. Die Eltern der Klägerin leben getrennt. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben seit ihrem 5. Lebensjahr keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter. Der Vater lebt in Wuppertal und bezieht ebenfalls Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin steht wegen rezidivierender depressiver Episoden seit dem 10.08.2017 unter rechtlicher Betreuung. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst insbesondere die Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern.
Die Unterkunfts- und Heizbedarfe der Klägerin betrugen im Mai und Juni 2019 insgesamt 379,85 EUR (233,85 EUR Grundmiete, 84 EUR Betriebskosten, 62 EUR Heizkosten). Im Juni 2019 war eine Betriebskostennachzahlung von 19,29 EUR fällig. Die Warmwasseraufbereitung in der Wohnung der Klägerin erfolgt dezentral über strombetriebene Durchlauferhitzer.
Im August 2018 begann die Klägerin eine Ausbildung zur Erzieherin, weswegen sie rückwirkend zu diesem Monat zuschussweise Leistungen nach dem BAföG von dem Beigeladenen iHv monatlich 504 EUR erhielt (Bescheid des Beigeladenen vom 14.03.2019). Die Nachzahlung wurde zum Ausgleich von Erstattungsansprüchen überwiegend an den Beklagten erbracht. Ab April 2019 erhielt die Klägerin die BAföG-Leistungen auf ihr Konto ausgezahlt. Auf ihren Fortzahlungsantrag vom 17.03.2019, in dem sie die BAföG-Bewilligung des Beigeladenen angab, bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 04.04.2019 Leistungen u.a. für Mai und Juni 2019 iHv monatlich 215,60 EUR. In diesen Monaten rechnete der Beklagte - abzüglich eines Freibetrags von 100 EUR - das Einkommen nach dem BAföG neben dem Kindergeld an. Mit Änderungsbescheid vom 06.06.2019 berücksichtigte der Beklagte unter Beibehaltung der Einkommensanrechnung bedarfserhöhend die Nebenkostennachzahlung der Klägerin iHv 19,29 EUR im Juni 2019.
Mit Schreiben vom 19.06.2019 teilte der Beigeladene der Klägerin mit, dass die Leistungen nach dem BAföG ab Juli 2019 eingestellt würden, da die Klägerin ab dem 03.04.2019 nicht mehr am Unterricht teilgenommen und ihre Ausbildung beendet habe. Der Beklagte berücksichtigte nach entsprechender Mitteilung mit Änderungsbescheid vom 24.06.2019 kein Einkommen aus Leistungen nach dem BAföG von Juli 2019 bis April 2020.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 12.07.2019 hob der Beigeladene die Leistungsbewilligung nach dem BAföG ab Mai 2019 auf und forderte von der Klägerin einen Betrag iHv insgesamt 1.008 EUR für Mai und Juni 2019 (je 504 EUR) zurück.
Der Betreuer der Klägerin beantragte für die Klägerin bei dem Beklagten mit Schreiben vom 08.08.2019, die BAföG-Leistungen rückwirkend aus der Einkommensberechnung zu nehmen und die hierdurch bedingte Alg II-Nachzahlung direkt an den Beigeladenen zum Ausgleich der dortigen Erstattungsforderung zu zahlen. Der Beklagte wertete dieses Schreiben als Überprüfungsantrag und lehnte mit Bescheid vom 12.08.2019 eine Neubescheidung der Leistungsmonate Mai und Juni 2019 ab. Das Einkommen sei in Form der BAföG-Leistungen zugeflossen und daher im Zuflussmonat als Einkommen zu berücksichtigen. Spätere Änderungen zur Leistungsberechtigung und Erstattung nach dem BAföG seien unbeachtlich. Ab Juli 2019 sei kein Einkommen nach dem BAföG mehr berücksichtigt worden.