Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Folge eines Arbeitsunfalls

 

Orientierungssatz

1. Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist die exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erforderlich, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (BSG Urteil vom 29. 11. 2011, B 2 U 23/10 R).

2. In der Regel zeigt sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einer Latenz von maximal sechs Monaten; daher sind bei verzögertem Beginn sorgfältige differenzialdiagnostische Abgrenzungen erforderlich.

3. Bei einer Anpassungsstörung handelt es sich um eine zeitlich befristete psychische Störung, die sich als Reaktion auf einen identifizierbaren Belastungsfaktor innerhalb einer Zeitlatenz von drei Monaten nach Beginn der Belastung entwickelt und nicht länger als sechs Monate anhält. Eine Anpassungsstörung kann lediglich bis zu einer Zeitdauer von maximal zwei Jahren diagnostiziert werden. Werden erstmals 30 Jahre nach dem Unfall psychische Symptome festgestellt, kann die Anpassungsstörung dem Unfall nicht zugeordnet werden.

 

Nachgehend

BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 09.08.2021; Aktenzeichen 1 BvR 1163/21)

BSG (Beschluss vom 01.03.2021; Aktenzeichen B 2 U 179/20 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 08.09.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Unfallfolge.

Der 1932 geborene Kläger erlitt am 28.06.1971 als Landwirt einen Arbeitsunfall, als er mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidierte. Er erlitt dabei zahlreiche Verletzungen, insbesondere eine Schenkelhalsfraktur, eine Oberschenkelschaftfraktur und eine Luxationsfraktur des oberen Sprunggelenkes sowie eine Schädelprellung mit Verdacht auf Gehirnerschütterung. Im Durchgangsarztbericht des Dr. M vom Städtischen Krankenhaus M1 heißt es, der Kläger sei in einem schweren Schockzustand ins Krankenhaus eingeliefert worden und habe über den Unfallhergang keine Angaben machen können. Bei dem Unfall wurde auch die Ehefrau des Klägers, die Beifahrerin war, erheblich verletzt; sie erlitt u.a. eine Hirnschädigung.

Die Beklagte ließ den Kläger internistisch, chirurgisch und neurologisch begutachten und bewilligte ihm aufgrund dieser Gutachten ab dem 01.01.1973 eine Verletztenrente wegen Unfallfolgen auf chirurgisch/orthopädischem Fachgebiet nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 60 v.H. Der neurologische Sachverständige Prof. Dr. L, Chefarzt der Neurologischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten P, hatte in seinem Gutachten vom 09.12.1973, das er aufgrund einer Untersuchung des Klägers vom 06.11.1973 (also ca. zwei Jahre nach dem Unfall) erstattet hatte, ausgeführt, dass keine psychopathologischen Auffälligkeiten erkennbar seien. Auch neurologische Abweichungen oder Ausfallerscheinungen seien nicht vorhanden. Insbesondere bestehe kein Anhalt dafür, dass es bei dem Unfall zu einer substantiellen Hirnschädigung im Sinne einer Contusio cerebri oder einer intracraniellen Hirnblutung gekommen sei. Es sei lediglich möglich, dass es bei dem Unfall zu einer leichten Gehirnerschütterung gekommen sei. Eine solche stelle jedoch eine funktionelle und stets reversible Schädigung dar, die nur vorübergehende Folgen hinterlasse. Längstens nach Ablauf von zwei Jahren seien postcommotionelle Beschwerden nach nervenärztlicher Erfahrung abgeklungen.

Verschlimmerungsanträge des Klägers aus den Jahren 1978, 1980 und 1982 wurden von der Beklagten bestandskräftig abgelehnt.

Aufgrund eines weiteren Verschlimmerungsantrags bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 22.10.1990 ab dem 01.09.1989 eine Rente nach einer MdE von 70 v.H.  Grundlage hierfür waren Gutachten des Chirurgen Prof. Dr. N vom 12.12.1989 und des Internisten Prof. Dr. T vom 27.06.1990, beide vom C in C1.

Seit dem 01.11.1992 erhält der Kläger auf Grund der Bescheide vom 24.08.1993, 25.08.1995 und 07.05.1996 eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 80 v.H.. An Unfallfolgen sind anerkannt: "In O-Stellung knöchern fest konsilidierter Schenkelhals- sowie achsengerecht konsolidierter Oberschenkelschaftbruch links. Daraus resultierende Bewegungseinschränkungen des linken Hüft- und Kniegelenkes. Im Wesentlichen durch posttraumatische Weichteilverkalkungen bedingte Bewegungseinschränkung des rechten Hüftgelenkes. Beinverkürzung links von 3,5 cm. Durch Schwerpunktverlagerung nach rechts Beugekontraktur in beiden Hüftgelenken, links stärker ausgeprägt als rechts, besteht im Sinne einer richtungsgebenden Verschlimmerung einer vorbestehenden Krankheit (S-förmige Torsionsskoliose mit rechtskonvexem Schwerpunkt) eine unphysiologische Steilstellung der Lendenwirbelsäule. Knöchern konsolidier...

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