Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Überprüfungsantrag. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. kein anderes Aufenthaltsrecht als niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger. kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als sorgerechtsausübender Elternteil eines Kindes in Schulausbildung. keine notwendige Beiladung und Verurteilung des Sozialhilfeträgers

 

Orientierungssatz

1. Ein dem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 aF entgegenstehendes anderes Aufenthaltsrecht als niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger im Sinne des § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 liegt nicht vor, wenn das angemeldete Gewerbe tatsächlich nicht ausgeübt wurde.

2. Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als sorgerechtsausübender Elternteil eines Kindes in Schulausbildung gemäß § 2 Abs 1 FreizügG/EU 2004 iVm Art 10 EUV 492/2011 besteht nicht, wenn beide Elternteile im strittigen Zeitraum keinen Arbeitnehmerstatus in Deutschland innegehabt haben.

3. Der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 aF ist mit europa- und verfassungsrechtlichen Vorschriften vereinbar.

4. Eine Beiladung und Verurteilung des Sozialhilfeträgers gemäß § 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG kommt nur in Betracht, wenn im Verfahren gegen den Beigeladenen im Wesentlichen über dieselben Tat- und Rechtsfragen wie im Ausgangsverfahren gegen den Grundsicherungsträger zu entscheiden ist. Dies ist allein schon deshalb nicht der Fall, weil aufgrund der Struktur des Anspruchs aus § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 nicht im Wesentlichen über dieselben Tat- und Rechtsfragen zu entscheiden ist.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 18.05.2022; Aktenzeichen B 7/14 AS 27/21 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.11.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.08.2012 bis 31.10.2012 streitig.

Die am 00.00.1987 geborene Klägerin zu 1) ist geschieden und Mutter der am 07.01.2006 geborenen Klägerin zu 2). Beide haben die estnische Staatsbürgerschaft.

Im Januar 2012 reisten die Klägerinnen in die Bundesrepublik ein und meldeten sich am 17.01.2012 in C unter der Adresse E-Platz 00, Hotel Q, an. Die Klägerin zu 1) meldete zum 19.01.2012 ein Gewerbe "Küchenhilfe, Reinigungskraft, Aushilfe im Hotel" an. Einnahmen aus dem angemeldeten Gewerbe erzielte sie nicht. Die Klägerin zu 1) nahm ab dem 21.05.2012 an einem Integrationskurs teil. Ab dem 01.08.2012 besuchte die Klägerin zu 2) eine Grundschule.

Das Bezirksamt U von C bewilligte der Klägerin zu 1) Leistungen nach dem UVG i.H.v. 180,00 Euro monatlich ab dem 01.02.2012. Mit Bescheid  vom 30.07.2012 bewilligte die Familienkasse C Nord der Klägerin zu 1) für die Klägerin zu 2) Kindergeld i.H.v. 184,00 Euro monatlich für die Zeit von März 2012 bis Januar 2024 und nahm die laufende Zahlung ab Juli 2012 auf.

Mit Bescheid vom 10.02.2012 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 03.08.2012 gewährte das Jobcenter C U vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 17.01.2012 bis 31.07.2012. Mit Änderungsbescheid vom 09.10.2012 bewilligte das Jobcenter C U den Klägerinnen geringere Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.02.2012 bis 31.05.2012 und forderte mit weiteren Bescheid vom 09.10.2012 die Erstattung eines Betrags i.H.v. 720,00 Euro nach §§ 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II, 328 SGB III.

Nach einem Umzug innerhalb C im Juni 2012 beantragte die Klägerin zu 1) am 18.06.2012 die Fortzahlung der Grundsicherungsleistungen ab Juli 2012. Sie legte eine Anmeldebestätigung des Bezirksamtes S C vor, wonach sie seit dem 16.06.2012 unter der Adresse N-Straße 00, C, gemeldet sei. Zudem legte sie einen Mietvertrag vom 05.06.2012 für die o.g. Wohnung (ca. 53 qm) vor, die sie ab dem 16.06.2012 angemietet hatte. Die Grundmiete betrug 264,45 Euro, die Betriebskosten 112,00 Euro und die Heiz- und Warmwasserkosten für eine Gas-Zentralheizung 75,00 Euro.

Mit Bescheid vom 23.07.2012 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Klägerin zu 1) habe lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche und sei daher nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin zu 1) wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2012 als unbegründet zurück. Die selbständige Tätigkeit sei nicht ausgeübt worden.

Im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, S 114 AS 19370/12 ER, verpflichtete das Sozialgericht Berlin den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung, den Klägerinnen für den Zeitraum vom 23.07.2012 bis 23.01.2013 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 759,64 Euro monatlich zu gewähren. Hiergegen legte der Beklagte Beschwerde ein, L 34 AS 1936/12 B ER. Den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 SGG lehnte d...

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