Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Mehrsprachigkeit. Beherrschung der deutschen Sprache in Schriftform
Orientierungssatz
Ein Betroffener gehört nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, wenn er nicht in der Lage ist, deutsch zu schreiben, obwohl er sich auf Grund seiner Schulausbildung durchaus schriftlich ausdrücken kann, denn zum Gebrauch der Sprache wie einer Muttersprache gehört nicht nur das Reden, sondern auch das Lesen und Schreiben (vgl LSG Berlin vom 25.11.1988 - L 1 An 178/86).
Nachgehend
Tatbestand
Umstritten ist die Gewährung von Altersruhegeld aus der deutschen Rentenversicherung.
Der 1913 in Kleczev bei Posen/Polen geborene jüdische Kläger, der seit 1949 in Israel lebt, stellte im Oktober 1990 erstmals einen Rentenantrag bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Dazu gab er in dem Antragsschreiben an, daß er von 1928 bis 1936 zunächst als Lehrling und später als Schneidergeselle bei den Schneidereien S G und L beschäftigt gewesen sei; nach seiner Übersiedlung nach Posen habe er von 1936 bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges im Jahre 1940 als Schneider bei M K gearbeitet. Beim Einmarsch der deutschen Truppen sei er mit seiner Gattin P in die Sowjetunion geflüchtet, wo er verschiedene Arbeiten in U verrichtet habe. 1945 sei er nach Polen zurückgekehrt und 1949 nach Israel ausgewandert.
In dem Antragsvordruck vom 07.04.1991 teilte der Kläger mit, daß er vom 01.08.1928 bis 31.07.1931 als Schneiderlehrling bei S G in K, vom 01.08.1931 bis 30.06.1941 als Schneidergeselle und Schneidermeister bei J L sowie bei M K im P und vom 01.12.1941 bis 31.05.1945 als Schneider bei verschiedenen Kooperationen in Usbekistan gearbeitet habe; für alle Zeiten seien Beiträge zur polnischen bzw. russischen Versicherung abgeführt worden. Schließlich sei er ab 01.08.1946 bis März 1949 als Schneider für das DP-Lager A gegen Kost sowie Logis und Gehalt tätig gewesen. Er sei NS-Verfolger im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) und gehöre dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) an. Die Frage, ob er einen Entschädigungsantrag gestellt habe, füllte er mit einem Strich aus.
Die Zeugen N S aus M Ma/I und A L aus H G/I führten in den Eidesstattlichen Erklärungen vom 20.05.1991 übereinstimmend aus, daß sie den Kläger seit allerfrühester Kindheit kennen. Er komme aus einem deutschsprachigen Elternhaus, in dem deutsche Bücher und Gebetbücher gelesen worden seien. Bei gemeinsamen Treffen benutzten sie (die Zeugen und der Kläger) noch heute die deutsche Sprache. Sie könnten bestätigen, daß der Kläger vom 01.08.1928 bis 31.07.1931 bei G als Schneiderlehrling gearbeitet habe und anschließend bis 14.02.1936 als Schneider bei L. Nach seinem Umzug nach Posen sei der Kläger ab 15.02.1936 als Schneidermeister bei K beschäftigt gewesen.
In dem Fragebogen zur Feststellung des dSK vom 02.10.1991 gab der Kläger ergänzend an, daß er seit Geburt die polnische Staatsangehörigkeit besessen habe und von 1941 bis 1949 staatenlos gewesen sei. Er habe im Herkunftsgebiet die deutsche und polnische Sprache beherrscht, im persönlichen Lebensbereich deutsch gesprochen. In seinem Elternhaus seien deutsche Bücher gelesen worden; er lese auch heute noch deutsche Tageszeitungen. In seinem Geburtsort habe es keine deutschen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache gegeben. Muttersprache seiner 1940 in der Ukraine geheirateten und in Polen geborenen Ehefrau sei ebenfalls Deutsch gewesen. Zur weiteren Unterstützung überreichte der Kläger eine eigene "Eidesstattliche Erklärung" vom 02.10.1991, in der er nochmals mitteilte, daß er von 1928 bis 1941 anfangs als Schneiderlehrling und später als Schneidergeselle und Schneidermeister in Polen beschäftigt gewesen sei; im Juli 1941 sei er nach Rußland geflüchtet, wo er vom 01.12.1941 bis 31.05.1945 in Usbekistan bei verschiedenen Kooperationen als Schneider tätig gewesen sei; ab August 1946 habe er bis März 1949 in Deutschland als Schneider für das DP-Lager A gearbeitet.
Auf den Rentenantrag zog die Beklagte, an die das Verfahren zuständigkeitshalber abgegeben worden war, die den Kläger betreffenden Entschädigungsakten des Bayerischen Landesentschädigungsamts M bei. Gemäß den daraus gefertigten Kopien war ein Antrag des Klägers vom 23.07.1957 auf Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung durch Bescheid vom 17.10.1961 abgelehnt worden, weil er entgegen seiner Behauptung nicht nach dem Kriegsausbruch nationalsozialistischer Verfolgung in Polen ausgesetzt gewesen sei, sondern, wie sich aus den vorliegenden Unterlagen ergebe, sich durch Flucht nach Rußland den rassischen Verfolgungen in Polen habe entziehen können.
Laut Aufenthaltsbescheinigung des Internationalen Suchdienstes A vom 21.07.1958 hat der Kläger damals als Beruf angegeben: "Schneider".
In einer eigenen "Eidlichen Erklärung" vom 30.11.1956 hatte d...