Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstellung der Rentenzahlung an Bewohner der Colonia Dignidad wegen nicht sichergestelltem Zufluß. Obhutspflicht des Rentenversicherungsträgers
Orientierungssatz
§§ 2 Abs 2, 17 Abs 1 Nr 1 SGB 1 sind keine Ermächtigungsgrundlage für das Einstellen von Leistungen (vgl ua LSG Essen vom 10.6.1999 - L 3 RJ 259/98 und vom 8.3.1999 - L 4 RJ 208/98).
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Einstellung der Rentenzahlung ab November 1997.
Der am 12.05.1927 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er lebt in Chile in einer von Deutschen gegründeten Siedlung, die im allgemeinen unter der Bezeichnung "Socieda Benefactora y Educacional Dignidad" -- "Colonia Dignidad" -- (CD) bekannt ist. Die Bewohner selbst nennen ihre Gemeinschaft, die im Gebiet der Gemeinde P in Chile liegt, V B.
Der Kläger bezieht von der Beklagten Regelaltersrente (Rentenbescheid vom 21.04.1993). Ohne Anhörung des Klägers stellte die Beklagte mit Bescheid vom 29.09.1997 die Zahlung der Renten ein. Dabei berief sie sich auf die §§ 2 Abs. 2 und 17 Abs. 1 Nr. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I). Sie ist der Ansicht, für die Rentenversicherungsträger bestehe eine Obhutspflicht, dafür zu sorgen, daß jeder Berechtigte die ihm vom Gesetz zugedachte Rente auch tatsächlich erhalte und sie für sich nutzen könne. Aufgrund der in der CD herrschenden Verhältnisse sei davon auszugehen, daß der Kläger infolge eines seitens der Kolonieführung ausgeübten Zwangs geschäftsunfähig sei und ihm die Zahlungen tatsächlich nicht zuflössen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß aus diesem Grund eine Rentenzahlung die persönliche Situation des Klägers noch verschlechtere.
Den hiergegen von dem Kläger am 21.10.1997 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 04.11.1997 unter Berufung auf zwei Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22.02.1995 (4 RA 54/93 und 4 RA 44/94 in SozR 3-1200 § 66 Nr. 3) zurück: Sie habe außer der vorläufigen Zahlungseinstellung keine weitere Handhabe, um die vom Gesetz auferlegte Obhutspflicht zu erfüllen.
Hiergegen hat der Kläger am 10.11.1997 Klage zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Er ist der Ansicht, für die Einstellung der Rentenzahlung bestehe keine Rechtsgrundlage. Die angegriffenen Bescheide seien darüber hinaus ermessensfehlerhaft.
Mit Urteil vom 06.10.1998 hat das SG den Bescheid vom 29.09.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.1997 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Regelaltersrente von monatlich 650,17 DM ab dem 01.11.1997 und von monatlich 653,05 DM ab dem 01.07.1998 zu zahlen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, eine Rechtsgrundlage zur Einstellung der Rentenleistung existiere nicht. Die Beklagte sei insbesondere nicht nach den §§ 2 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I hierzu berechtigt. Zweifel daran, ob der Versicherte die ihm zustehende Leistung auch tatsächlich erhalte, könnten nur im Rahmen der Mitwirkung nach den §§ 60 ff. SGB I geklärt werden.
Die Beklagte hat am 30.12.1998 gegen das ihr am 10.12.1998 zugestellte Urteil Berufung eingelegt: Sie habe eine Obhutspflicht, dafür Sorge zu tragen, daß Sozialleistungen die Leistungsberechtigten tatsächlich erreichten. Daran beständen bei den Leistungsempfängern, die der CD angehörten, begründete Zweifel. Die Beklagte sei befugt, die Rentenzahlungen solange einzubehalten, bis überzeugend sichergestellt sei, daß die Rentenempfänger der CD in ihrer Willensbestimmung frei seien und in den Genuß der Zahlungen gelangten. Wenn sie ihrer Obhutsverpflichtung nachkommen wolle, müsse sie als ultima ratio in der speziellen Situation der CD, anders als bei Maßnahmen nach den §§ 60 ff. SGB I, zu einer vorläufigen Zahlungseinstellung berechtigt sein.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16. Oktober 1998 zu ändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Das Amtsgericht Düsseldorf hat mit Beschluß vom 20.05.1999 (99 XVII S 1785) die von der Beklagten angeregte Einleitung eines Verfahrens auf Betreuerbestellung für den Kläger abgelehnt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese Akten haben vorgelegen und waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Die Beklagte war nicht berechtigt, die Zahlung der Renten an den Kläger einzustellen. Die angefochtenen Bescheide vom 29.09.1997 und 04.11.1997 sind rechtswidrig. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) insoweit im wesentlichen Bezug auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils.
Für die Einstellung der Rentenzahlung besteht keine Rechtsgrundlage. Der Senat schließt sich insofern auch ...