Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Nachteilsausgleich aG. Voraussetzungen. Vergleichsmaßstab. doppelter Energieaufwand als "Normalmenschen". ordnungsgemäße Prozeßvertretung des Landes Nordrhein-Westfalen durch die Bezirksregierung Münster nach Auflösung des Landesversorgungsamtes
Orientierungssatz
1. Kein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG, wenn sich der Antragsteller trotz seiner erheblichen Beeinträchtigungen - wenn auch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt - über eine Wegstrecke von 30 m ausreichend sicher zu Fuß fortbewegen kann, um sodann nach einer Gehpause seinen Weg wieder aufzunehmen und nicht gehalten ist wegen seiner körperlichen Beeinträchtigungen, aus medizinischen Gründen zur Vermeidung überflüssiger Wegstrecken einen Rollstuhl zu benutzen.
2. Bei dem Vergleich zwischen der Einschränkung der Fortbewegungsfähigkeit des jeweiligen Anspruchstellers und dem in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs 1 S 1 Nr 11 StVO benannten Personenkreis kommt es nicht auf die Versorgung der kraft Verwaltungsvorschrift außergewöhnlich Gehbehinderten - mit Ausnahme des einseitig Oberschenkelamputierten - mit prothetischen oder sonstigen Hilfsmitteln an. Es ist vielmehr auf die Art und das Ausmaß der Behinderung im Hinblick auf den Schweregrad der Beeinträchtigung des Gehvermögens ohne prothetische Versorgung abzustellen. (vgl BSG vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 = SozR 3-3870 § 4 Nr 22).
3. Bei dem Behinderten, der eine Gleichstellung mit den kraft der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs 1 S 1 Nr 11 StVO außergewöhnlich Gehbehinderten begehrt, muss ein Leidenszustand vorliegen, der ihn bei der Fortbewegung faktisch an den Rollstuhl bindet bzw der zur Fortbewegung eine Benutzung eines Rollstuhls zumindest als dringend geboten erscheinen lässt. Denn ohne prothetische Versorgung oder ähnliche Hilfsmittel ist der in der VV benannte Personenkreis nahezu fortbewegungsfähig (vgl BSG vom 11.3.1998 - B 9 SB 1/97 R = BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23).
4. Die Feststellung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" ist nicht davon abhängig, ob Vergleichbarkeit zu einem einzelnen Behinderten, dem das Merkzeichen "aG" zuerkannt wurde, besteht. Voraussetzung ist vielmehr, dass der Anspruchsteller in funktioneller Hinsicht dem in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs 1 S 1 Nr 11 StVO genannten Personenkreis gleichgestellt ist.
5. Nach Auffassung des Senats kann der in einem Einzelfall gezogene Vergleich mittels eines Energieaufwandes (hier doppelter Energieaufwand im Vergleich zum "Normalmenschen") nicht dazu führen, dass die Voraussetzungen für aG erfüllt sind, wenn sich bei der Tatsachenprüfung und -bewertung ansonsten ergibt, dass der Betroffene funktionell deutlich besser gestellt ist als die a priori außergewöhnlich Gehbehinderten.
6. Zur ordnungsgemäßen Prozeßvertretung des Landes Nordrhein-Westfalen iS des § 71 Abs 5 SGG durch die Bezirksregierung Münster als Folge der Auflösung der bisherigen Landesoberbehörde "Landesversorgungsamt" (vgl LSG Essen vom 31.1.2001 - L 10 VS 28/00).
Nachgehend
Tatbestand
Der 1953 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Bei ihm sind wegen der Gesundheitsstörungen "Spastische Beinlähmung mit operierten Spitzklumpfuß, Schwerhörigkeit beiderseits, Fehlstellung und Verschleißleiden der Lendenwirbelsäule" ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festgestellt (Bescheid vom 02.07.1999).
Bereits 1996 hatte der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf (S 30 SB 272/96) erfolglos die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" begehrt und dazu vorgetragen, dass es ihm nur mit großer Kraftanstrengung möglich sei, sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zu bewegen. In ihren Gutachten waren die Sachverständigen Dr. R (21.04.1997) und Dr. V (14.06.1997) zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger trotz einer spastischen Paraparese der Beine nicht außergewöhnlich gehbehindert sei. Er sei bezüglich seiner Gehbehinderung mit einem Oberschenkelamputierten vergleichbar, nicht aber mit einem Oberschenkelamputierten, der ständig außer Stande ist, ein Kunstbein zu tragen. Anders als dieser könne sich der Kläger auf kurzen Strecken ohne technische Hilfsmittel und ohne fremde Hilfe bewegen. Im Juni 1999 beantragte der Kläger erneut, den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen. Zur Begründung legte er eine Bescheinigung des Stationsarztes K vor; danach liegt die maximale Gehstrecke des Klägers bei Benutzung eines Handstocks bei 30 Metern; von der Tagesform abhängig könnten häufig lediglich noch kürzere Gehstrecke zurückgelegt werden.
Nach ...