Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der Prüfungspflicht der Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen bei vom Vertragsarzt geltend gemachter Praxisbesonderheit. Unwirtschaftliche Verordnungsweise. Überschreitung des Richtgrößenvolumens. Beurteilungsspielraum. Diabetologischer Tätigkeitsschwerpunkt. Insulintherapie bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus
Orientierungssatz
1. Nach § 106 Abs. 5e i. V. m. Abs. 2 S. 1 SGB 5 hat der Vertragsarzt bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % nach Feststellung durch die Prüfstelle den sich daraus ergebenden Mehraufwand der Krankenkasse zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % erfolgt eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5a S. 1 SGB 5.
2. Praxisbesonderheiten sind aus der Zusammensetzung der Patienten herrührende Umstände, die sich auf das Behandlungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe nicht in entsprechender Weise anzutreffen sind.
3. Die zur Darlegung der Praxisbesonderheit dem Vertragsarzt obliegende Mitwirkungspflicht berechtigt die Prüfgremien nicht, sich darauf zu beschränken, pauschal die Nichterfüllung der insoweit bestehenden Anforderungen festzustellen; diese müssen sich vielmehr mit substantiierten Darlegungen des Arztes auseinandersetzen.
4. Ist der Vertragsarzt seiner Darlegungslast nachgekommen und hat er die spezielle Struktur seiner Patientenschaft aufgezeigt, so ist die Prüfungsstelle verpflichtet, diesen aufgezeigten Praxisbesonderheiten nachzugehen.
Normenkette
SGB V § 106 Abs. 2 S. 1, Abs. 5a S. 1, Abs. 5e; RgV 2010 § 5 Abs. 3-5
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.11.2013 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer schriftlichen Beratung wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen im Jahre 2010.
Die klagende Gemeinschaftspraxis war Schwerpunktpraxis in den Disease-Management-Programmen (DMP) Diabetes Typen 1 und 2 und bestand aus den hausärztlich tätigen Fachärztinnen für Innere Medizin Dr. M und Dr. T.
Auf die Mitteilung der Prüfungsstelle, dass wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößensumme für das Jahr 2010 ein Prüfverfahren eingeleitet werde, erläuterte die Klägerin mit Schreiben vom 17.07.2012, sie betreibe seit dem 01.04.2002 eine Diabetesschwerpunktpraxis mit ständig wachsender Patientenzahl. Bis zum Quartal IV/2010 habe sie insgesamt 1.593 Patienten betreut, davon 1.401 Diabetiker. Diese seien in 73 % der Fälle zu ihr überwiesen worden. Die Vertragsärztin Dr. M sei Ausbilderin der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer u.a. im DMP und erhalte - auch aufgrund ihres Adipositasschwerpunkts - Überweisungen von ca. 250 Ärzten aus einem Umkreis von über 150 km. Ihr Behandlungsschwerpunkt sei die Therapie mit oralen Antidiabetika. Ein Großteil ihrer Patienten habe einen Body-Mass-Index (BMI) über 30 kg/m² bis weit über 40 kg/m² und werde ihr mit dem Zielauftrag zugewiesen, eine Insulintherapie entweder zu vermeiden oder zu beenden, da die Patienten darunter an Gewicht stark zugenommen hätten. Eine weitere Spezialisierung ihrer Praxis sei zudem die Betreuung von ca. 350 Typ 1 Diabetikern. Im Verhältnis zu schwerpunktmäßig insulintherapierenden Praxen bestehe sicherlich kein Unterschied in der absoluten Menge des ausgegebenen Budgets pro Diabetesfall. Sie beantrage eine individuelle Richtgröße und biete auch gerne eine Einzelfallprüfung ihrer kostenintensiven Patienten an. Sie beantrage die Anerkennung der Mehrkosten für die oralen Antidiabetika (ATC A10B) in Höhe von 736.654,01 EUR für das Jahr 2010.
Mit Bescheid vom 22.11.2012 verfügte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein für die Quartale 1/2010 bis 4/2010 wegen Überschreitung der Arzneimittel-Richtgrößen eine schriftliche Beratung. Dem widersprach die Klägerin am 07.12.2012 im Wesentlichen mit der Begründung, die Besonderheiten ihrer Praxis seien nicht bzw. nicht vollständig berücksichtigt worden. Diese ergäben sich bereits aus zwei Kennwerten: Über 90% der Patienten hätten Diabetes mellitus, davon bis zu 20% Diabetes mellitus Typ 1; über 80% der Patienten kämen auf Überweisung zur diabetologischen Mitbehandlung, ganz überwiegend durch Überweisung von anderen Hausärzten. Der wesentliche Unterschied zu anderen hausärztlichen Praxen, die ebenfalls in vergleichbarem Umfang diabetologisch tätig seien, liege in der anteilig höheren Verordnung von Antidiabetika, die nicht Insulin seien, d.h. sie habe an Stelle von Insulin andere Antidiabetika, nicht notwendigerweise orale Antidiabetika, verordnet. Ihrer diabetologischen Schwerpunktpraxis würden von hausärztlichen Kollegen nur die Patienten zugewiesen, die aufgrund der Besonderheiten der Erkrankung nicht mehr im Rahmen der allgemeinen hausärztlichen Versorgung betreut...