Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Vergütung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Richtgrößenprüfung. Anwendbarkeit des Filters 6a 4. Erforderlichkeit einer ergänzenden intellektuellen Einzelfallprüfung
Leitsatz (amtlich)
In Verfahren der Richtgrößenprüfung ist der Filter 6a 4 (Versorgung von insulinpflichtigen Diabetespatienten - ausschließlich mit Insulin behandelt) auf die Praxis eines Vertragsarztes, der fast ausschließlich Typ-1-Diabetiker behandelt, nicht ohne weiteres anzuwenden. Es bedarf insoweit einer ergänzenden intellektuellen Prüfung.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 04.02.2019 abgeändert und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16.11.2017 verurteilt, über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 17.12.2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird endgültig auf 5.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Im Streit steht die Festsetzung einer individuellen Beratung wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2013.
Der Kläger ist Facharzt für Innere Medizin und als hausärztlicher Internist zur vertragsärztlichen Versorgung mit Vertragssitz in B zugelassen. Er behandelt schwerpunktmäßig Patienten mit Diabeteserkrankung und ist Gründer und Leiter des Diabetes-Dorfs A.
Im Jahr 2013 hatte der Kläger insgesamt 2.268 Behandlungsfälle (Mitglied/Familienangehörige ≪M/F≫ 1.775, Rentner ≪R≫ 493) und verordnete Arznei- und Verbandmittel in Höhe von 720.951,77 € (brutto). Die zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen (Beigeladene zu 2 bis 6) und der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (Beigeladene zu 1) für 2013 vereinbarten Richtgrößen lagen in der Richtgrößengruppe für hausärztliche Internisten für M/F bei 46,55 € je Fall und für R bei 161,99 € je Fall, was einem Richtgrößenvolumen für den Kläger in Höhe von 162.487,32 € entspricht.
Mit Schreiben vom 13.11.2015 teilte die Prüfungsstelle der Gemeinsamen Prüfungseinrichtungen Baden-Württemberg dem Kläger mit, im Rahmen einer Vorabprüfung sei festgestellt worden, dass das Arzneimittelverordnungsvolumen im Kalenderjahr 2013 das individuelle Richtgrößenvolumen des Klägers um mehr als 15 % (nämlich um 74,15 %) überstiegen habe. Die Prüfungsstelle führe daher eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise von Arznei- und Verbandmitteln (Richtgrößenprüfung) bei dem Kläger durch. Aufgrund der vorliegenden Daten werde davon ausgegangen, dass die Überschreitung nicht in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten erklärt werden könne. Dem Kläger wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Dem Anhörungsschreiben waren zur näheren Erläuterung Anlagen beigefügt (u.a. eine Verordnungsstatistik für Arzneimittel nach Richtgrößen sowie Anlagen zur Anwendung der Filter des von den Prüfgremien zur Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten angewandten Filterverfahrens).
Der Kläger führte daraufhin im Schreiben vom 07.12.2015 aus, er führe eine diabetologische Schwerpunktpraxis, die insbesondere auf Insulinpumpen-Patienten spezialisiert sei und für die es deutschlandweit keine vergleichbare Institution gäbe. Seine Verordnungsweise sei daher mit der anderer Ärzte nicht vergleichbar. Der Schwerpunkt seiner Verordnungen liege auf Insulin und Blutzuckerteststreifen. Zahlreiche seiner Patienten ließen sich ihr Insulin vom Hausarzt vor Ort verschreiben, während dieser wiederum darauf dränge, dass die Blutzuckerteststreifen bei ihm, dem Kläger, verordnet würden. Das erkläre, weswegen zahlreichen Patienten Blutzuckerteststreifen verordnet wurden, ohne gleichzeitige Verordnung von Insulin.
Mit Bescheid vom 17.12.2015 setzte die Prüfungsstelle eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) wegen erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % fest. Von dem Verordnungsvolumen des Klägers i.H.v. 720.951,77 € setzte die Prüfungsstelle für Mehrkosten nach Filter 5 einen Betrag in Höhe von 74,08 €, nach Filter 6a3 einen Betrag in Höhe von 24.492,88 € sowie nach Filter 6a4 („Versorgung von insulinpflichtigen Diabetespatienten - ausschließlich mit Insulin behandelt“) einen Betrag von 413.369,90 € ab. Damit verblieben Verordnungskosten in Höhe von 282.976,17 €. Bei einem Richtgrößenvolumen 162.487,32 €, das sich anhand der Fallwerte der Vergleichsgruppe der internistischen Hausärzte errechne, entspreche dieser Betrag einer Abweichung von 74,15 %. Abzüglich der Zuzahlungen und Apotheken- und Herstellerrabatte ergebe sich eine Nettoregresssumme von 64.588,46 €. Ein Regress erfolge jedoch nicht, weil erstmalig nach Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens von mehr als 25 % vorliege. Die verbleibende Übersch...