Entscheidungsstichwort (Thema)

Grenzen der Amtsermittlungspflicht des Gerichts in einem Verfahren des Opferentschädigungsrechts

 

Orientierungssatz

1. Bei einem geltend gemachten Anspruch nach dem OEG haben Behörden und Gerichte konkret die angeschuldigten Handlungen nach Ort, Zeit und Art zu ermitteln und zu benennen, die sie als Angriffe i. S. des § 1 OEG ansehen.

2. Der Betroffene ist sowohl im Verwaltungs- als auch im gerichtlichen Verfahren zur Mitwirkung verpflichtet. Hierzu zählt auch die Verpflichtung, sich ärztlich untersuchen zu lassen, soweit dies dem Betroffenen zumutbar ist.

3. Bei unterlassener Mitwirkung gehen sich daraus ergebende Beweisnachteile zu Lasten des Betroffenen.

4. Verweigert der Betroffene eine vom Gericht angeordnete Untersuchung, so kann das Gericht eine Begutachtung nach Aktenlage veranlassen. Ergeben sich danach keine Anhaltspunkte für den nach dem OEG geltend gemachten Anspruch, so hat das Gericht seiner Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG genügt.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 12.08.2020; Aktenzeichen B 9 V 27/20 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24.06.2016 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig sind Beginn und Höhe von Ansprüchen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die Klägerin wurde im Juli 1967 geboren und hat mehrere Geschwister. Ihre Mutter war Ärztin, ihr Vater war als Wissenschaftler in einem Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in N beschäftigt. Die Mutter der Klägerin bezog aufgrund einer depressiven Erkrankung Rente wegen Erwerbsminderung. Der Vater der Klägerin ist im Jahr 2004 an den Folgen einer Alkoholkrankheit verstorben. Die Klägerin besuchte zunächst ein Gymnasium in N und begann danach ein Studium der Landschaftsplanung in C. Mit Anfang 20 nahm sie an einer psychotherapeutischen Jahresgruppe teil und unterzog sich sodann bei dem dortigen Therapeuten einer 15-stündigen Einzeltherapie. Zwischen 1996 bis 1998 absolvierte die Klägerin rund 250 Stunden traumazentrierte tiefenpsychologische Behandlung bei der Therapeutin Frau I in B. Dieser Therapeutin teilte die Klägerin mit, sie sei von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Ferner war die Klägerin in einer psychosomatischen Behandlung in der Klinik H sowie in der Psychosomatischen Abteilung in der D in B.

Soweit bekannt, lebt die Klägerin seit dem Jahr 2000 in einem Bauwagen und versorgt ihre Pferde. Ihr Studium schloss sie nicht ab. Im Mai 2005 begab sich die Klägerin zur vollstationären Behandlung in das (damalige) Landeskrankenhaus H (Chefarzt: Prof. Dr. T).

Am 12.03.2010 beantragte die Klägerin bei dem LWL die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Dabei gab sie an, ihr Vater habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Durch Bescheid vom 21.01.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2012 lehnte der LWL nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen und wiederholter Befragungen der Klägerin den Antrag ab, weil der behauptete Schädigungstatbestand nicht nachgewiesen sei. Die Klägerin habe keine näheren Angaben zum Tathergang gemacht. Hiergegen erhob die Klägerin im Januar 2013 unmittelbar beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) Klage (L 13 VG 1/13 KL). Parallel hierzu wandte sie sich an den Landesbehindertenbeauftragten NRW und das (damalige) Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales (MAIS) des beigeladenen Landes NRW.

Aufgrund eines Telefonats und eines vierstündigen (auf Tonband aufgenommen) Gesprächs mit der Klägerin am 02.01.2013, an dem neben der Klägerin auch ein Mitarbeiter des MAIS und der Landesbehindertenbeauftragte NRW teilnahmen, stellte die Oberärztin und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie der LVR-Klinik - Frau N - ein ärztliches Attest aus. In dem Attest gab Frau N an, die Klägerin habe über sexuellen Missbrauch durch ihren Vater berichtet. Tatort sei ein Museum, das in die Zuständigkeit des LWL gehöre. Es habe ihr sichtlich große Schwierigkeiten bereitet, einfache Sätze, die das erwähnte Thema betroffen hätten, über die Lippen zu bekommen. Sie habe sich in unwichtigen Details verloren und versucht, so wenig und kurz wie möglich die empfindlichsten Details, und zwar "wann, wo, wer hat mit dem sexuellen Missbrauch zu tun gehabt", zu erwähnen. Das Verhalten sowie die Art und Weise der Exploration und Kommunikation habe ernst, leidend und echt gewirkt; dies sei im Gesamtkontext nachvollziehbar gewesen. Die Darstellung der Klägerin des in der Kindheit erlebten sexuellen Missbrauchs sei aus fachärztlicher und psychotherapeutischer Sicht plausibel, glaubhaft und nachvollziehbar.

Zu Beschwerden habe die Klägerin angegeben, sie habe häufig Albträume, spüre oft Luftnot, habe das Gefühl, sie würde ersticken oder in hilflosen Situationen bis zur Erschöpfung schreien. Sie fühle sich oft in zwischenmenschlichen Situationen - vor allem, wenn sie Nähe, Enge oder in irgendeiner Form Druck empfinde - unsicher und ...

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