Entscheidungsstichwort (Thema)
Annahme einer entgeltlichen Beschäftigung bei der Feststellung einer Ghetto-Beitragszeit
Orientierungssatz
1. Es ist gesichert, dass in Wilna/Litauen von September 1941 bis September 1943 ein Ghetto bestanden hat. Hat der Versicherte dort nach seinen eigenen Angaben für seine Tätigkeit lediglich Lebensmittel für zu Hause erhalten, so hat es sich nicht um eine entgeltliche Beschäftigung gehandelt.
2. Wird bei gewährten Lebensmitteln das Maß des persönlichen Bedarfs überschritten und werden die Lebensmittel zur freien Verfügung gewährt, so ist von Entgelt auszugehen. Stehen Art und Umfang nach Ausschöpfung aller Beweismittel nicht fest, so kann ein entsprechender Umfang im Einzelnen als glaubhaft gemacht angesehen werden, wenn die gute Möglichkeit besteht, dass ein Dritter hiervon über einen erheblichen Zeitraum zumindest entscheidend mitversorgt worden ist. Nur in einem solchen Fall ist bei der Gewährung von Lebensmitteln von einer entgeltlichen Beschäftigung auszugehen.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.08.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna.
Die am 00.00.1927 unter dem Geburtsnamen G in Wilna im damaligen Polen geborene jüdische Klägerin hatte ursprünglich die polnische Staatsangehörigkeit, war dann staatenlos und ist jetzt israelische Staatsangehörige. Ihre Einreise nach Israel erfolgte am 10.12.1946. Sie ist anerkannte Verfolgte nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) (Feststellungsbescheid C des Regierungsbezirksamtes für Wiedergutmachung und verwaltete Vermögen Koblenz v. 28.03.1957).
Im Entschädigungsantrag vom 22.03.1955 gab sie an, sie sei von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna gewesen. Sodann erklärte sie zu ihrem Verfolgungsschicksal am 31.03.1955: "Im September 1941 wurde ich zusammen mit meinen Angehörigen in das Ghetto Wilna zwangsübergesiedelt. Wir wohnten dort in der Spitalna. Mein Vater wurde mit zwei Schwestern anlässlich der großen Aktion im Jahre 1942 zur Zwangsarbeit nach Estland verschickt und im gleichen Jahr als Arbeitsunfähiger zur Vernichtung nach Auschwitz abtransportiert. Ich selbst blieb zusammen mit meiner Mutter und kleineren Geschwistern im Ghetto Wilna bis September 1943 (Liquidation des Ghettos). Während meine Mutter mit den kleineren Kindern einem Transport nach Treblinka zugeteilt wurde, bin ich in das KZ Kaiserwald bei Riga abtransportiert worden."
Den Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Wilna bestätigten die Zeuginnen E L und E C. Letztere erklärte überdies, sie und die Klägerin hätten bereits im Ghetto Wilna Zwangsarbeiten leisten müssen.
Am 07.11.2002 beantragte die Klägerin die Gewährung von Regelaltersrente unter Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Im Versicherungsverlauf des Formantrags gab sie an, sie habe von September 1941 bis September 1943 im Ghetto Wilna landwirtschaftliche Arbeiten verrichtet und hierfür Lebensmittel für zu Hause bekommen. Im Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG ergänzte sie, die Arbeit habe außerhalb des Ghettos stattgefunden. Sie sei durch Vermittlung des Judenrates zustande gekommen. Sie, die Klägerin, habe Gurken und Zwiebeln ernten müssen. Sie habe Lebensmittel für nach Hause mitbekommen, jedoch keinen Barlohn erhalten.
Die Beklagte zog die Unterlagen der JCC - Art-2-Fonds- bei, in denen die Klägerin lediglich den zeitlichen Umfang des Ghettoaufenthalts beschrieb und zudem erklärte, sie sei mit ihrer Zwillingsschwester in das KZ Riga-Kaiserwald deportiert worden. Als Geschwister gab sie weiter an: zwei ältere Schwestern (geb. 1919 und 1923) sowie zwei ältere Brüder (geb. 1921 und 1922), außerdem die Zwillingsschwester B I.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid v. 04.08.2004). Die Klägerin habe keine entgeltliche Beschäftigung glaubhaft gemacht, da sie lediglich angegeben habe, Lebensmittel erhalten zu haben.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 21.03.2005 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie am 04.12.2005 eine freie Erklärung abgegeben, in der es heißt: "Im Ghetto Wilna befand ich mich von September 1941 bis September 1943. Um zu existieren und nicht deportiert zu sein, erfüllte ich verschiedene freiwillige Arbeiten. Im Winter Reinigungsarbeiten, im Frühling und im Sommer landwirtschaftliche Arbeiten. Für meine freiwillige Arbeit im Ghetto habe ich einen Lohn wie alle anderen jüdischen Arbeiter im Ghetto erhalten. Es ist mir aber schwer, nach so langer Zeit genaue Angaben zu machen. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob ich Lebensmittel immer direkt oder als Lebensmittelcoupons erhalten habe und ob zusätzlich etwas Bargeld gezahlt wurde. Aber meine Arbeit und die da...