Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Grundleistungen. Leistungsbewilligung unter Anrechnung steuerrechtlichen Kindergeldes. rückwirkende Aufhebung der Bewilligung und Rückforderung des Kindergeldes. Anspruch des Leistungsberechtigten auf Freistellung von der Erstattung. Anwendbarkeit der §§ 102 ff SGB 10. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Anspruch des Leistungsberechtigten auf rückwirkende Bewilligung höherer Leistungen. Überprüfungsverfahren. Rechtmäßigkeit der Leistungsbewilligung. Beantragung eines steuerrechtlichen Billigkeitserlasses
Leitsatz (amtlich)
1. Ist bei der Berechnung von Leistungen nach dem AsylbLG steuerrechtliches Kindergeld als Einkommen angerechnet worden und wird die Bewilligung von Kindergeld später rückwirkend aufgehoben und das Kindergeld zurückgefordert, so kann der Leistungsberechtigte vom Leistungsträger nach dem AsylbLG keine Freistellung von dieser Rückforderung verlangen. Die §§ 102 ff. SGB X sind insoweit weder unmittelbar noch analog anwendbar. Auch im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kann eine Freistellung nicht erfolgen.
2. Eine nachträgliche Gewährung von AsylbLG-Leistungen nach § 44 SGB X scheidet ebenfalls aus, weil im Bedarfszeitraum das Kindergeld noch als tatsächlich zugeflossenes Einkommen für die Bedarfsdeckung zur Verfügung gestanden hat (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.03.2012- L 2 AS 5392/11 für den Fall der Anrechnung von steuerrechtlichem Kindergeld auf Alg II).
3. Der Leistungsberechtigte hat (einzig) die Möglichkeit, einen steuerrechtlichen Billigkeitserlass (§ 227 AO) zu beantragen (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 22.09.2011 - III R 78/08).
Orientierungssatz
1. Begehrt ein Leistungsempfänger die Freistellung von einem Erstattungsanspruch wegen zu Unrecht bezogenem Kindergeld, so gibt es für einen solchen geltendgemachten Dritterstattungs- oder Freistellungsanspruch keine Rechtsgrundlage. Die Erstattungsvorschriften der §§ 102 ff. SGB 10, insbesondere § 103 SGB 10 sind weder direkt noch entsprechend anwendbar. Die §§ 102 ff. SGB 10 bilden ein geschlossenes System von Ansprüchen eines Sozialleistungsträgers gegen einen anderen, innerhalb dessen dem Leistungsberechtigten selbst keine Mitwirkungsrechte zustehen. Damit ist auch eine analoge Anwendung ausgeschlossen.
2. Zugleich ist ein sog. Drittersatzanspruch nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in vergleichbarer Weise ausgeschlossen, wie dies im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung für Erstattungsansprüche neben § 13 Abs. 3 SGB 5 gilt.
3. Eine nachträgliche Leistungserbringung im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Abs. 4 SGB 10 kommt dann nicht mehr in Betracht, wenn bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz die Bedürftigkeit für Leistungen nach dem AsylbLG oder für Leistungen nach dem SGB 2 oder SGB 12 zwischenzeitlich zeitlich begrenzt oder auf Dauer weggefallen ist.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.12.2011 geändert und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Freistellung von einem Erstattungsanspruch des Beigeladenen wegen rechtswidrig gezahlten Kindergeldes, hilfsweise die rückwirkende Bewilligung weiterer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit von April 2005 bis Januar 2007.
Der 1963 geborene Kläger und seine 1968 geborene Ehefrau besitzen die serbische Staatsangehörigkeit. Die Eheleute haben fünf Kinder (geb. 00.00.1988, 00.00.1991, 00.00.1993, 00.00.1996 und 00.00.2000).
Die Familie lebt seit 1992 in Deutschland. Sämtliche Asyl- bzw. Asylfolgeanträge blieben erfolglos. Bis 2007 wurde die Familie durchgehend aufenthaltsrechtlich geduldet. Der Kläger erhielt am 22.02.2007 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die übrigen Familienangehörigen am 29.06.2007.
Bis 1998 lebte die Familie in W, wo ihnen sog. Grundleistungen nach § 3 AsylbLG gewährt wurden. Nach Umzug in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten erhielt sie von dort zunächst in der Zeit von Oktober 1998 bis Oktober 2002 ebenfalls Grundleistungen. Kindergeldzahlungen der Beigeladenen erfolgten in diesem Zeitraum nicht. Die Unterkunfts- und Heizkosten für die Privatwohnung der Familie von zunächst monatlich 650,00 EUR beliefen sich im Juni 2012 auf mittlerweile 680,00 EUR.
Ende August 2002 nahm der Kläger eine Vollzeittätigkeit als Reinigungskraft auf. Die Beklagte stellte daraufhin die Leistungen zum 01.11.2002 ein. Ende September 2002 beantragte der Kläger bei der Beigeladenen (erstmalig) Kindergeld. Mit Bescheiden vom 20.11.2002 und 09.01.2003 bewilligte sie dem Kläger für seine fünf Kinder Kindergeld für August bis November 2002 bzw. "ab" Dezember 2002. Das Kindergeld belief sich in der Folgezeit zunächst auf 820,00 EUR monatlich; im Juni 2012 zahlte die Beigeladene Kindergeld i.H.v. 978,00 EUR an den Kläger. In bei...