Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Veränderung von Ansprüchen. Forderungserlass wegen Unbilligkeit. Ermessensentscheidung. gerichtliche Kontrolle. verfassungskonforme Auslegung. keine Unbilligkeit des Forderungseinzugs

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschrift des § 44 SGB 2 vermittelt einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Forderungserlass (vgl BSG vom 25.4.2018 - B 4 AS 29/17 R = BSGE 125, 301 = SozR 4-4200 § 40 Nr 14).

2. Da § 44 SGB 2 an § 76 Abs 2 Nr 3 SGB 4 angelehnt ist und dieser wiederum an § 227 AO 1977, wird vertreten, dass zur Auslegung die zur Vorgängervorschrift von § 227 AO 1977 ergangene Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes aus dem Jahr 1971 (vgl GmSOGB vom 19.10.1971 - GmS-OGB 3/70 = NJW 1972, 1411) heranzuziehen ist, nach der die Entscheidung der Behörde darüber, ob die Einziehung einer Forderung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen ist und der Maßstab der Billigkeit Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens bestimmt.

3. Demgegenüber ist der Senat unter verfassungskonformer Auslegung der Auffassung, dass der Begriff der Unbilligkeit gemäß § 44 SGB 2 der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dem steht die Rechtsprechung des BSG nicht entgegen.

4. Zum Nichtvorliegen von Unbilligkeit des Forderungseinzugs im Sinne des § 44 SGB 2.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.05.2020 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren die Rückerstattung eines gezahlten Betrages und den Erlass der zugrundeliegenden Forderung.

Der am 00.00.1967 geborene, alleinstehende Kläger bezog seit dem 01.06.2006 vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Bei Erstantragstellung im Mai 2006 erklärte er, nicht über Vermögen zu verfügen, das den Wert von 4.850 EUR übersteigt. Mit seiner Unterschrift bestätigte der Kläger, das Merkblatt "SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende" erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Tatsächlich verfügte der Kläger durchgehend über ein Sparbuch bei der Sparkasse E, das im Mai 2006 ein Guthaben iHv 10.061,88 EUR und im Oktober 2013 ein Guthaben iHv 10.344,81 EUR aufwies. Insgesamt verfügte der Kläger zwischen Mai 2006 und Oktober 2013 über Vermögen iHv 12.693 EUR (Mai 2006) bis 18.893 EUR (Februar 2013). Zum Ende des Leistungsbezugs im Oktober 2013 belief sich das Vermögen auf 18.491 EUR, was dem Beklagten im August 2013 durch einen Datenabgleich mit dem Bundeszentralamt für Steuern bekannt wurde.

In seiner Äußerung zur Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme der Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 01.06.2006 bis zum 31.10.2013 und zu einer Erstattung iHv 31.233,72 EUR führte der Kläger aus, er habe sein Vermögen aus Existenzängsten verschwiegen. Er habe in den letzten Jahren immer aufstockend Leistungen nach dem SGB II beziehen müssen. In einer solchen Situation leihe ihm niemand Geld für ein neues Auto, das aber für seine Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt unabdingbare Voraussetzung sei. Zudem benötige er einen Pkw, um sich um seine an Demenz erkrankten Eltern kümmern zu können. Überdies habe er aus dem Vermögen eine Verbindlichkeit bei der L Bankengruppe iHv 7.387,06 EUR getilgt sowie Rückstände bei der Deutschen Rentenversicherung iHv 338,20 EUR, die während einer früheren selbstständigen Tätigkeit aufgelaufen seien, bezahlt. Weitere 1.000 EUR habe er sich bar auszahlen lassen, um davon die Kfz-Steuer und die Hauptuntersuchung seines PKW bezahlen zu können. Der Erstattungsbetrag sei viel zu hoch, er halte ihn für unverhältnismäßig.

Mit Bescheid vom 16.12.2013 nahm der Beklagte die Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 01.06.2006 bis zum 31.10.2013 vollständig zurück und forderte eine Erstattung iHv 31.233,72 EUR. Das Vermögen habe seit der Antragstellung bis einschließlich Oktober 2013 über der Vermögensfreigrenze gelegen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.03.2014 zurück. Der Kläger sei im gesamten streitbefangenen Zeitraum nicht hilfebedürftig gewesen. Das vorhandene Vermögen stehe Monat für Monat einem Leistungsanspruch entgegen.

Die hiergegen erhobene Klage blieb im Berufungsverfahren erfolglos (Senatsurteil vom 29.06.2017 - L 7 AS 395/16). Mit Urteil vom 25.04.2018 (B 4 AS 29/17 R) wies das BSG die Revision des Klägers gegen das Senatsurteil vom 29.06.2017 zurück. Ob das Vermögen zur Deckung der Bedarfe des Klägers über den Rücknahmezeitraum ausgereicht hätte, sei unbeachtlich. Vermögen sei zu berücksichtigen, solange es tatsächlich vorhanden ist. Da die Bewilligungen auf zumindest grob fahrlässig unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Klägers beruht hätten, sei bei der Entscheidung über die Rücknahme Ermessen nicht auszuüben. Raum fü...

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