Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen eines Anspruchs des Versicherten auf festbetragsfreie Arzneimittelversorgung

 

Orientierungssatz

1. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB 5 begrenzt die Wirkkraft der Festbetragsfestsetzung für Arzneimittel. Ist aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich, weil die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, welche über Unannehmlichkeiten hinausgehen und wird hierdurch die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit erreicht, so hat der Versicherte Anspruch auf Versorgung über den Festbetrag hinaus.

2. Alle zum Festbetrag in Betracht kommenden Arzneimittelalternativen müssen erfolglos ausgeschöpft sein (BSG Urteil vom 3. 7. 2012, B 1 KR 22/11 R).

3. Ist der Nachweis, dass der Versicherte nicht in zumutbarer Weise durch die zum Festbetrag zur Verfügung gestellten Arzneimittel zu behandeln ist, nicht erbracht, besteht kein Anspruch auf festbetragsfreie Arzneimittelversorgung.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 19.02.2014 wird zurückgewiesen.

Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für das Arzneimittel Alvesco®, die ihr seit Januar 2009 entstanden sind, sowie die zukünftige Übernahme der Kosten nach vertragsärztlicher Verordnung, soweit sie den Festbetrag der Festbetragsgruppe "Glucocortikoid, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1 und die gesetzliche Zuzahlung übersteigen.

Die 1957 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet u.a. an Asthma bronchiale. Am 24.04.2009 beantragte sie bei der Beklagten die vollständige Kostenübernahme für das Medikament Alvesco® (Wirkstoff Ciclesonid). Sie verwies auf einen Bericht des Klinikums S vom 02.04.2009, wonach eine Allergie gegen den Festbetragsarzneistoff Beclometason die Notwendigkeit dieses Medikaments begründe. Dem Antrag war der Ausdruck einer E-Mail von Prof. Dr. I1, Professorin an der Fakultät pharmazeutische Chemie für die Fachbereiche Biochemie und klinische Chemie an der Universität X, vom 19.08.2008 an die Klägerin beigefügt. Darin ist u.a. ausgeführt: "Es ist so, dass die einzelnen Glucocorticoide prinzipiell die gleiche Effektivität haben, wenn man die Dosis entsprechend anpasst Das Potenzial für Nebenwirkungen ist für ältere Substanzen (Belcometasondipropionat, Budesonid) aus pharmakologischer Sicht höher als für neue Substanzen (Fluticasonpropionat, Mometasonfuroat, Ciclesonid)."

Die Klägerin führte weiter aus, beim Versuch, auf den Festbetragsarzneistoff Beclometason umzustellen, habe sie nach drei Tagen kleine Pusteln am ganzen Körper, starken Juckreiz, verbunden mit leichtem Fieber bekommen. Das Medikament sei sofort abgesetzt worden und die Symptome verschwunden. Laut Auskunft ihrer Lungenfachärzte gebe es Behandlungsalternativen für die lebensnotwendige Grundbehandlung außer mit dem begehrten Medikament nicht.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 24.04.2009 ab. Den dagegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.05.2009 zurück.

Die Klägerin hat am 01.06.2009 Klage beim Sozialgericht Detmold erhoben. Ein zugleich anhängig gemachtes Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes blieb für die Klägerin in beiden Instanzen erfolglos (LSG NRW - L 11 B 11/09 KR ER).

Die Klägerin hat zur Begründung der Klage ausgeführt, die Entscheidung der Beklagten verstoße gegen ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Sie sei seit 2005 auf das begehrte Medikament angewiesen. Die Corticoide der ersten Generation hätten - soweit zum Einsatz gekommen - allergische Reaktionen ausgelöst; das Kombinationsspray Viani (Fluticason) habe zu massiven Kreislauf- und Atemproblemen geführt. Aufgrund der allergischen Reaktionen auf die Testung sei es zu Krankenhausaufenthalten gekommen. Insoweit führe die strenge Handhabung des vermeintlichen Wirtschaftlichkeitsgebots zu Mehrkosten für den Krankenversicherungsträger. Auch der MDK habe eine Fortführung der aktuellen Therapie empfohlen. Aufgrund der allergischen Reaktionen sei die medikamentöse Grundversorgung weder ausreichend noch zweckmäßig. Sie sei nicht verpflichtet, weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen aufgrund zusätzlicher und vorhersehbarer Arzneimittelnebenwirkungen im Rahmen der Testung weiterer Medikamente in Kauf zu nehmen. Eine solche Forderung sei weder mit den Menschenrechten noch mit den Grundrechten und auch nicht mit den Zielen des SGB V bzw. des SGB IX und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH, EGMR, Bundesverfassungsgerichts und Bundessozialgerichts zu vereinbaren. Eine kostenaufwändige Erprobung etwa des Arzneistoffes Budenosid widerspräche angesichts des geringen Einsparpotenzials für die Krankenkassen zudem dem Wirtschaftlichkeitsgebot.

Die Festbetragsregelung sei fehl...

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