Entscheidungsstichwort (Thema)

Genehmigung der gegenüber einem Geschäftsunfähigen unwirksamen Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes durch den besonderen Vertreter. Verlust des Rügerechts einer unwirksamen Bekanntgabe

 

Orientierungssatz

1. Ein Verwaltungsakt, der einer rechtlich handlungsunfähigen Person i. S. des § 11 SGB 11 zugegangen ist, ist mangels Bekanntgabe gemäß § 37 SGB 10 unwirksam.

2. Ein Verwaltungsakt wird bei Geschäftsunfähigkeit eines Beteiligten wirksam, wenn er seinem besonderen Vertreter oder Betreuer bekanntgegeben wird. Eine zufällige Kenntnisnahme bei Akteneinsicht reicht für eine Bekanntgabe nicht aus.

3. Sowohl ein geeigneter Vertreter i. S. von § 15 SGB 10 als auch der besondere Vertreter nach § 72 SGG ist befugt, Handlungen eines Prozess- bzw. Geschäftsunfähigen im Verwaltungsverfahren zu genehmigen, wenn dieses dem anschließenden Klageverfahren als Sachurteilsvoraussetzung zwingend vorausgeht.

4. Der besondere Vertreter hat die gleichen Rechte wie ein gesetzlicher Vertreter. Beide können die Rechtsgeschäfte eines Geschäftsunfähigen nachträglich unbegrenzt genehmigen, ohne an Fristen gebunden zu sein.

5. Die Genehmigungsbefugnis des besonderen Vertreters nach § 72 SGG hat zur Folge, dass er dieses Recht auch durch rügelose Einlassung verwirken kann. Dies ist dann der Fall, wenn er erkennbar den Verwaltungsakt als gültig behandelt, ohne die mangelnde Bekanntgabe zu rügen.

6. Die Beanstandung der mangelnden Bekanntgabe eines Bescheides ist ausgeschlossen, wenn der Vertreter den Bescheid ausschließlich inhaltlich angegriffen hat.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 05.09.2018; Aktenzeichen B 8 SO 33/18 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 14.11.2017 geändert und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt lediglich noch die Feststellung der Unwirksamkeit eines Bescheides.

Der im März 1948 in Bulgarien geborene Kläger lebt in einer Mietwohnung in N. Bis zum 31.06.2013 bezog er vom Jobcenter N Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Seit Erreichen der Regelaltersgrenze erhält er weder Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB XII.

Am 13.08.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten u.a. die Übernahme von Stromkosten i.H.v. monatlich 32 EUR sowie der Nachforderung aus einer Mietnebenkostenabrechnung für das Jahr 2013 i.H.v. 307,73 EUR.

Die Beklagte forderte den Kläger anschließend wiederholt, zuletzt unter Fristsetzung bis zum 28.10.2014 und Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung (§§ 60 ff. SGB I), auf, diverse Unterlagen u.a. zu seinem Einkommen und Vermögen sowie zur Höhe seiner Unterkunftskosten vorzulegen. Der Kläger übersandte daraufhin am 24.10.2014 lediglich diverse Kontoauszüge bzgl. seines Girokontos (u.a. vom 19.08.2014 bis 02.09.2014) sowie die Quittung über den Kauf eines Pkw.

Durch (am 31.10.2014 mit einfachem Brief versandtem) Bescheid vom 30.10.2014 versagte die Beklagte die Übernahme der Nachforderung aus der Heiz- und Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2013 i.H.v. 307,73 EUR sowie der Stromkosten nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I.

Am 16.02.2015 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Münster Klage erhoben und sinngemäß (u.a.) die Übernahme der Betriebskostennachforderung für 2013 sowie monatlicher Stromkosten von 35 EUR begehrt. Er habe gegen den Bescheid vom 30.10.2014 am 05.11.2014 Widerspruch erhoben, ohne dass dieser von der Beklagten bislang beschieden worden sei.

Das Sozialgericht hat dem Kläger nach vorheriger Anhörung mit Beschluss vom 04.05.2015 nach § 72 Abs. 1 SGG einen besonderen Vertreter beigeordnet. Dieser hat nach Akteneinsicht mit am 28.08.2015 eingegangenem Schriftsatz vorgetragen, die Klage sei zunächst als Untätigkeitsklage, gerichtet auf Bescheidung des Widerspruchs vom 05.11.2014, auszulegen. Zwar sei in den Verwaltungsvorgängen kein Widerspruch enthalten; der Kläger habe einen solchen nach seinem eigenen Vorbringen jedoch erhoben. Unabhängig davon sei der angefochtene Bescheid vom 30.10.2014 auch rechtswidrig; denn dem prozessunfähigen Kläger könnten Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 64 SGB I nicht zugemutet werden.

In einem bei dem erkennenden Senat anhängig gewesenen, bereits erledigten Streitverfahren (LSG NRW, Urteil vom 16.10.2017 - L 20 SO 384/15) hat der Senat den Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Dr. F nach § 106 SGG mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 25.11.2016 zu der Beurteilung gelangt, dass der Kläger aufgrund einer Persönlichkeitsstörung schon seit Juli 2013 nicht für sich selbst im Verwaltungsverfahren tätig werden könne und dauerhaft prozessunfähig, höchstwahrscheinlich auch geschäftsunfähig sei. Auf den Inhalt des Gutachtens, welches das Sozialgericht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat, wird Bezug genommen.

In der nichtöffentlichen Sitzung vom 25.10.2017 hat der Kammervorsitzende mit den Beteiligten die A...

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