Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Versagung von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung. nachträgliche Leistungserbringung nach § 67 SGB 1. Voraussetzungen einer Nachholung der Mitwirkungshandlung. bloße Bereiterklärung zur Mitwirkung. kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen Versagungsbescheid. Überprüfung von Versagungsbescheiden nach § 44 SGB 10. kein Anspruch auf Rücknahme eines Versagungsbescheids nach Ablauf der Verfallfrist
Orientierungssatz
1. Die Nachholung einer Mitwirkungshandlung iS des § 67 SGB 1 setzt voraus, dass die Mitwirkungshandlung tatsächlich erfolgt ist. Allein die Bereiterklärung zur Mitwirkung reicht grundsätzlich nicht aus.
2. Die Rücknahme eines Versagungsbescheids kann zulässigerweise nur durch eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erreicht werden.
3. Als Rechtsgrundlage für eine Überprüfung von Versagungsbescheiden kann § 44 SGB 10 in Betracht gezogen werden.
4. Ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Versagungsbescheids ist ungeachtet seiner Rechtswidrigkeit ausgeschlossen, wenn angesichts der Verfallregelungen des § 44 Abs 4 SGB 10 iVm § 40 Abs 1 S 2 SGB 2 - auch nach erneuter Prüfung der Leistungsvoraussetzungen durch den Grundsicherungsträger - keine Leistungsnachzahlung mehr erfolgen könnte.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 17.03.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 01.09.2012 bis 31.12.2013.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 12.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.01.2013 hatte die Beklagte Leistungen nach dem SGB II nach § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) für die Zeit vom 01.09.2012 bis 28.02.2013 versagt, mit bestandskräftigem Bescheid vom 22.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2013 für die Zeit vom 01.03.2013 bis 30.06.2013 sowie mit bestandskräftigem Bescheid vom 04.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2013 für die Zeit vom 01.07.2013 bis 31.12.2013. Die Bescheide haben ihre Bestandskraft jeweils nach Klage- und Berufungsverfahren und unter Anrufung des Bundessozialgerichts bzw. Bundesverfassungsgerichts erlangt.
Mit Schreiben vom 27.12.2019, laut Eingangsstempel in der Verwaltungsakte der Beklagte eingegangen am 02.01.2020, beantragte der Kläger unter der Überschrift "Nachträgliche Leistungserbringung (§ 67 SGB I)", ihm Leistungen nach dem SGB II nachträglich für die Zeit vom 01.09.2012 bis 28.02.2013, 01.03.2013 bis 30.06.2013 und 01.07.2013 bis 31.12.2013 zu bewilligen. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB X seien die Verwaltungsakte, mit denen die Leistungen für diesen Zeitraum versagt worden seien, aufzuheben, da die Versagung ihn in seinen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletze. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 - BvL 7/16 - und sei auch vor dem Urteil schon so gewesen. Das Gericht habe klar ausgeführt, dass nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Kürzung der Regelleistungen nach dem SGB II um maximal 30% erfolgen dürfe. Eine Versagung von Beiträgen zur Krankenversicherung und der Kosten der Unterkunft sei demnach nicht möglich und verfassungswidrig. Die für die Bewilligung damals geforderten Unterlagen werde er unaufgefordert nachreichen und damit die Mitwirkung nachholen. Nach Sinn und Zweck der §§ 66, 67 SGB I sei das Ziel der Vorschrift dann erreicht und Leistungen auch für die Vergangenheit zu bewilligen. Damit werde dann auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt.
Die Beklagte teilte dem Kläger mit Bescheid vom 17.02.2020 für den Zeitraum vom 01.09.2012 bis 28.02.2013 mit, dem Antrag könne nicht entsprochen werden. Unterlagen seien in dem Antrag zwar angekündigt, aber nicht nachgereicht worden. Zudem liege der Zeitraum, für den die Nachbewilligung begehrt werde, sieben Jahre zurück. In den letzten sechs Jahren seien auch keine Mitwirkungen bezüglich Eingliederungsaktivitäten ersichtlich gewesen. Es werde mit diesem Schreiben auf die Folgen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I hingewiesen und dahingehend Ermessen ausgeübt, dass die schutzwürdigen Interessen der Allgemeinheit an einer richtigen und rechtmäßigen SGB II-Leistungsgewährung höher einzustufen seien als sein Interesse an dem Bezug öffentlicher Sozialleistungen. Denn die geforderten Unterlagen seien nicht eingereicht worden und es habe daher keine Möglichkeit zur Entscheidung bestanden. Die Leistungen seien wegen fehlender Mitwirkung zu versagen.
Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 18.02.2020 und 19....