Entscheidungsstichwort (Thema)
Muttersprachlicher Analphabetismus bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
1. Dass ein Analphabetismus im Rahmen der Prüfung von Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen ist, ergibt sich bereits aus dem Begriff der "Erwerbsfähigkeit" bzw "Erwerbsunfähigkeit" iS des § 44 Abs 2 SGB 6 aF. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 13/98 = SozR 3-2200 § 1246 Nr 62), der sich der Senat anschließt, beinhalten diese Begriffe nicht nur gesundheitliche Leistungseinbußen, sondern grundsätzlich alle berufsrelevanten Kenntnisse und Fertigkeiten eines Versicherten, also auch dessen geistige und seelische Fähigkeiten.
2. Zu den berufsrelevanten Kenntnissen und Fertigkeiten eines Versicherten gehört auch folgerichtig die Fähigkeit, in der Muttersprache lesen und schreiben zu können; denn ein muttersprachlicher Analphabetismus ist ein die Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stark beeinflussender Faktor. Dies gilt unabhängig davon, ob ein Versicherter im In- oder Ausland aufgewachsen ist. Auch im Ausland aufgewachsene Versicherte sind - abgesehen von der Kenntnis der deutschen Sprache - mit ihren tatsächlichen Kräften und Fähigkeiten versichert (vgl BSG vom 4.11.1998 - B 13 RJ 13/98 R = aaO).
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit.
Die ... 1948 im ehemaligen Jugoslawien geborene Klägerin hat keine Schule besucht, keinen Beruf erlernt und kann weder in ihrer Muttersprache noch in deutscher Sprache lesen und schreiben. Nach ihrem Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland arbeitete sie ab 1984 als Küchen-, Putzhilfe bzw. Zimmermädchen. Zuletzt war sie von Juli 1988 bis September 1997 im Haus L e.V. als Küchenhilfe tätig. Im November 1994 erkrankte die Klägerin arbeitsunfähig. Seit April 1996 ist die Klägerin arbeitslos.
Am 16.10.1997 beantragte die Klägerin die Zahlung einer Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Die Beklagte veranlasste daraufhin u.a. eine ärztliche Begutachtung durch den Leitenden Medizinaldirektor, Internisten und Sozialmediziner Dr. G sowie den Orthopäden und Rheumatologen Dr. P. Letzterer stellte bei der Klägerin in seinem Gutachten vom 27.11.1997 folgende Gesundheitsstörungen fest:
1. Chronifiziertes Lendenwirbelsyndrom bei CT-nachgewiesener Bandscheibenprotrusion L5/S1 rechtsseitig, kein Nachweis gravierender funktioneller Ausfälle,
2. Halswirbelsäulensyndrom mit subjektiv schmerzhafter Bewegungseinschränkung bei Fehlstellung der Halswirbelsäule,
3. Polytopes Schmerzsyndrom unter Bevorzugung der Schultern, der Hände und Kniegelenke jeweils ohne Nachweis krankhafter Veränderungen oder Funktionsdefizite sowie
4. Adipositas per magna.
Dr. G diagnostizierte in seinem Gutachten vom 02.12.1997 (Bl. 19 ff GH) auf internistischem bzw. sozialmedizinischem Gebiet
1. eine Bandscheibenschädigung an der Lendenwirbelsäule, auch Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule mit wiederkehrenden Reizerscheinungen,
2. Schmerzen im Bereich mehrerer Gelenke,
3. erhebliches Übergewicht mit Bluthochdruckneigung, beginnender Zuckerstoffwechselstörung sowie
4. Neigung zu depressiven Verstimmungen, geringe Unterschenkelkrampfadern.
Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass die Klägerin (nach vorübergehender Arbeitsunfähigkeit) wieder in der Lage sei, jedenfalls leichte körperliche Tätigkeiten unter weiteren Einschränkungen vollschichtig zu erbringen.
Auf dieser medizinischen Grundlage lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 15.12.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.1998 mit der Begründung ab, dass die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig einsetzbar sei.
Mit ihrer am 13.05.1998 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und geltend gemacht, sie sei weder körperlich noch psychisch in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid vom 15.12.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles vom 16.10.1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist auch im Streitverfahren bei ihrer bisher vertretenen Auffassung geblieben, dass die Klägerin weder erwerbs- noch berufsunfähig sei. Trotz ihres Analphabetismus könne sie noch Montier- und Sortier- sowie Fließbandarbeiten verrichten.
Im Rahmen der Beweisaufnahme hat das Sozialgericht zunächst eine Arbeitgeberauskunft von dem letzten Arbeitgeber der Klägerin, dem Haus L. e.V., sowie Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin, den Orthopäden Dres. M und T und dem Internisten Dr. R, eingeholt.
Anschließend hat das Sozialgericht den Orthopäden Dr. A, D, den Internisten Dr. L, Privat-Institut für Leistungsmedizin und Prävention, D, und den Neurologen und Psychiater ...