Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. Erforderlichkeit eines Elektrorollstuhls bzw eines gleich geeigneten Zuggerätes für Rollstuhl ≪sogenanntes Rollstuhlbike≫
Orientierungssatz
Erforderlich iS des § 33 Abs 1 S 1 SGB 5 ist ein Elektrorollstuhl bzw ein gleich geeignetes Zuggerät für einen Rollstuhl (sogenanntes Rollstuhlbike) erst dann, wenn ein behinderter Mensch mittels eines Aktivrollstuhls eine Strecke von (geringfügig) mehr als 500 Meter nicht in zumutbarer Zeit zurücklegen kann.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.01.2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für ein selbst beschafftes sog. Rollstuhlbike (syn.: Speedy-Bike, Hand-Bike) hat. Bei diesem Gerät handelt es sich um ein an einen Rollstuhl ankuppelbares Zuggerät, das mit einer in Brusthöhe des Rollstuhlfahrers angebrachten Handkurbel ausgestattet ist und die Kraft mittels einer Kette auf das dazugehörige Vorderrad überträgt.
Der 1968 geborene Kläger erlitt im Juli 2003 bei einem Fahrradunfall eine contusio spinalis. Wegen der verbliebenen Unfallfolgen (inkomplette Querschnittslähmung) ist er mit Unterarmgehstützen, einem Rollator sowie einem Greifreifenrollstuhl (Aktivrollstuhl) versorgt. Er besitzt und fährt einen auf Handgas umgebauten Pkw.
Im März 2005 beantragte er unter Vorlage einer Verordnung der Internistin Dr. Q ein Hand-Bike der Fa. Speedy Reha-Technik. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Dr. H vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein und lehnte den Antrag auf Kostenübernahme mit Bescheid vom 26.04.2005 (Widerspruchsbescheid vom 20.09.2005) ab, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) allenfalls Kinder und Jugendliche Anspruch auf ein Rollstuhlbike hätten. Bei Erwachsenen gehöre Radfahren nicht zu den elementaren Grundbedürfnissen, für deren Sicherstellung die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) einzustehen habe; die bisherige Versorgung des Klägers mit Aktivrollstuhl und Rollator sei ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich.
Mit der am 04.10.2005 zum Sozialgericht Münster erhobenen Klage hat der Kläger, der zwischenzeitlich das Speedy-Bike angeschafft hatte, sein nunmehr auf Kostenerstattung umgestelltes Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er ausgeführt: Die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung schließe nicht aus, dass im Einzelfall auch ein erwachsener Versicherter Anspruch auf Gewährung eines Rollstuhlbikes habe. Ein solches Hilfsmittel sei in seinem Fall auch erforderlich. Denn in Abhängigkeit von seiner Tagesform könne er mit dem manuell betriebenen Rollstuhl lediglich Strecken von 500 bis 1000 m zurücklegen, was jedoch nicht ausreiche, um die täglichen Wege in seinem Nahbereich zurückzulegen. Dazu versetze ihn nur das Speedy-Bike in die Lage, denn durch die Übersetzung verringere sich der Kraftaufwand gegenüber dem Greifreifenrollstuhl.
Die Beklagte hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten. Ein Wahlrecht des Klägers zwischen einem Elektrorollstuhl und dem Rollstuhlzuggerät bestehe nicht, weil ein Elektrorollstuhl nur dann in Betracht komme, wenn ein handbetriebener Rollstuhl nicht bewegt werden könne. Eine Indikation für einen Elektrorollstuhl sei beim Kläger nicht gegeben.
Mit Urteil vom 22.01.2009 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten des selbst beschafften Speedybikes in Höhe von 2619,18 EUR zu erstatten. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe die Kostenübernahme für das Speedy-Bike zu Unrecht abgelehnt und sei daher gemäß § 13 Abs. 3 SGB V verpflichtet, dem Kläger die für die Anschaffung entstandenen Kosten zu erstatten. Das Vermögen des Klägers, mit dem Aktivrollstuhl 500 - 1000 m zurückzulegen, reiche zur Erschließung des Nahbereichs nicht aus, zumal hierzu auch der Rückweg zu rechnen sei. Auf die Benutzung des PKW zur Erschließung des Nahbereichs dürfe der Kläger nicht verwiesen werden. Weil damit die Voraussetzungen für die Gewährung eines Elektrorollstuhls gegeben seien, habe der Kläger statt eines solchen das kostengünstigere Hand-Bike wählen dürfen.
Gegen das am 12.02.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 06.03.2009 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie aus: Der vom Sozialgericht angenommene Anspruch auf einen Elektrorollstuhl und das daraus resultierende Wahlrecht zwischen Elektrorollstuhl und Hand-Bike bestünden hier nicht. Der Basisausgleich im Bereich des Gehens umfasse die Fähigkeit, sich in einer Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen " oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Da der Kläger in der Lage...