Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Widerlegung der Vermutung einer Versorgungsehe

 

Orientierungssatz

1. Nach § 46 Abs. 2a SGB 6 ist der Anspruch auf Gewährung von Witwenrente ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn dass im Einzelfall die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.

2. Die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung erfordert den vollen Beweis des Gegenteils.

3. Litt der Versicherte zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die innerhalb kurzer Zeit zum Tod führen konnte und waren sich sowohl der Versicherte als auch dessen Partnerin und spätere Ehefrau dessen bewusst, so sprechen solche Umstände für das Eingehen einer Versorgungsehe.

4. Demgegenüber stellen eine langjährig bestehende Liebesbeziehung und eine langjährige eheähnliche Lebensgemeinschaft keine überzeugend gegen eine Versorgungsehe sprechenden Umstände dar.

5. Ein planmäßiges Vorgehen des Versicherten nach Bekanntwerden der Krankheit zur Regelung seiner Vermögensverhältnisse spricht nicht gegen, sondern für eine generelle, also auch die Witwenversorgung umfassende Versorgungsabsicht.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 23.7.2014 geändert und die Klage abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist (große) Witwenrente.

Die 1955 geborene Klägerin war in zweiter Ehe mit dem 1944 geborenen und am 00.9.2011 verstorbenen E L (fortan: Versicherter) verheiratet. Nach Angaben der Klägerin waren der Versicherte und sie seit 1984 ein Paar und lebten zunächst mit Unterbrechungen, seit etwa 2007 durchgehend zusammen in der Wohnung des Versicherten. Die Eheschließung erfolgte am 11.8.2011 vor dem Standesamt S.

Anfang April 2011 wurde beim Versicherten ein etwa 5 cm großes Harnblasenkarzinom in fortgeschrittenem Zustand diagnostiziert und zur Beseitigung einer Nierenstauung entfernt (stationäre Behandlung im Q Hospital S vom 14.-20.4.2011). Kurz darauf (am 24.4.2011) erteilte der Versicherte der Klägerin eine umfassende Vorsorgevollmacht. Bei der vereinbarten weiteren stationären Behandlung im gleichen Krankenhaus (vom 26.5.-18.6.2011) wurde ein Harnblasenkarzinom (Stadium pT4a pN3 (29/58) pL1 pV1) mit ausgeprägter Tumorinfiltration des kleinen Beckens sowie des Sigma (im Becken liegender Teil des Dickdarms) mit Rektumbeteiligung (Mastdarmbeteiligung), beider Samenblasen und der Prostata diagnostiziert. Auch in zahlreichen Lymphknoten wurden Karzinommetastasen festgestellt. Es erfolgten eine Zystoprostatovesikulektomie (operative Entfernung von Harnblase, Prostata und Samenblasen) mit Anlage eines Ileum-Conduits (Dünndarm-Ersatzplastik) und eine Sigmaresektion mit Anlage eines Dünndarmstomas (künstlicher Dünndarmausgang). Aus der sich unmittelbar anschließenden vierwöchigen (Anschluss-)Heilbehandlung in der Klinik R/Bad X wurde der Versicherte in deutlich gebessertem Allgemeinzustand und mit gesteigerter Leistungsfähigkeit entlassen. Abschließend habe keinerlei Pflegebedürftigkeit vorgelegen. Er habe die täglichen Verrichtungen des Alltags weiter selbständig verrichten können. Der Vitamin B 12 - Spiegel sollte im Intervall von 2 Jahren überprüft werden (Bericht des Chefarztes Prof. Dr. P). Im Verlauf der danach durchgeführten (Poly-)Chemotherapie wurde der Versicherte vom 4. bis 5.8.2011 im Q-Hospital stationär mit Verdacht auf Herzinfarkt behandelt. Am 22.8.2011 wurde beim Versicherten ein Fortschreiten des Harnblasenkarzinoms mit neu aufgetretener hepatitischer und peritonialer (die Leber und das Bauchfell betreffender) Metastasierung festgestellt. Am 5.9.2011 wurde der Versicherte erneut stationär im Q Hospital aufgenommen, wo er am 00.9.2011 verstarb.

Am 10.11.2011 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Hinterbliebenenrente. In der Anlage für weniger als ein Jahr dauernde (fortan: unterjährige) Ehen kreuzte sie die Alternativen "Die Heirat erfolgte zur Sicherung der erforderlichen Betreuung/Pflege des ständig auf Pflege angewiesenen Ehegatten, und der Tod des Ehegatten war bei Eheschließung auf absehbare Zeit nicht zu erwarten" sowie "Die tödlichen Folgen einer Krankheit waren bei Eheschließung nach ärztlicher Auffassung nicht zu erwarten" an. Nach Hinweis der Beklagten, dass den Angaben keine Beweismittel beigefügt worden seien, legte sie den Entlassungsbericht des Prof. Dr. P vom Juli 2011 sowie eine mit einem PC - Schreibprogramm gefertigte und von ihr unterschriebene Stellungnahme vor. Darin gab sie an, den Versicherten aus Liebe geheiratet zu haben. Bereits seit 1984 habe man in Lebenspartnerschaft in einem gemeinsamen Haushalt gewohnt; etwa vier Jahre vor der Hochzeit habe sie ihre bis dahin nebenher bestehende eigene Wohnung vollständig aufgegeben. Dass der Versicherte so schnell nach der Hochzeit sterben würde...

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