Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss eines Anspruchs auf Altersrente bei wirksamer Antragsrücknahme. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Orientierungssatz
1. Ein Anspruch auf Gewährung von Regelaltersrente nach § 35 SGB 6 setzt u. a. einen wirksam gestellten Antrag voraus. Daran fehlt es, wenn dieser rechtswirksam zurückgenommen worden ist. Eine abgegebene Erklärung "die Akte schließen" ist im Zusammenhang mit dem erkennbaren Verhalten des Versicherten und dessen Bevollmächtigten im Rahmen einer verständigen Würdigung nach §§ 133, 157 BGB als Rücknahme des Antrags zu verstehen.
2. Fehlt eine wirksame Antragstellung, so lässt sich ein Rentenanspruch über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht herleiten. Die Fiktion eines mangels Antragstellung tatsächlich nicht anhängigen Verwaltungsverfahrens im Wege der Korrektur durch den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ist nicht zulässig (BSG Urteil vom 25. Oktober 1984, 11 RA 18/84).
3. Im Übrigen setzt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch eine Verletzung der Pflicht des Versicherungsträgers zur individuellen Beratung nach § 14 SGB 1 oder zur individuellen Auskunft nach § 15 SGB 1 voraus, durch die der Betroffene zu einer Antragsrücknahme verleitet worden wäre.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.07.2015 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Der Streitwert wird endgültig auf 20.053,17 EUR festgesetzt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1947 geborene Kläger N begehrt als Alleinerbe seiner 1924 in Rybnitsa (Transnistrien) geborenen und 2006 in Israel verstorbenen Mutter N (im folgenden: die Verstorbene) für die Zeit vom 01.07.1997 bis zum 30.11.2006 Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten der Verstorbenen im Ghetto Rybnitsa, Transnistrien, von November 1941 bis März 1944 nach den Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) und unter Berücksichtigung von Ersatzzeiten wegen Verfolgung.
Die Verstorbene hat zu Lebzeiten weder ein Entschädigungsverfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) noch ein Verfahren auf Bewilligung einer Anerkennungsleistung bei dem Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen noch ein Verfahren beim Article 2 Fund / Hardship Fund der Claims Conference durchgeführt. Beim israelischen Finanzministerium existiert keine Akte über das Verfolgungsschicksal der Verstorbenen. Bei der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" der Claims Conference hat sie 2001 einen Kurzantrag gestellt, in dem sie die Haftstätte - Rybnitsa (Moldova) 1941 - angegeben, aber keine Informationen zu ihrer Verfolgung gemacht hat; von der Stiftung erhielt sie nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (vom 12.08.2000) eine Zahlung für den Aufenthalt im Ghetto Rybnitsa im Jahr 1941.
Nach den ansonsten allein vorliegenden Angaben des Klägers war die Verstorbene in der Zeit von August 1941 bis März 1944 aufgrund ihrer jüdischen Abstammung durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen in ihrer Freiheit beeinträchtigt; insbesondere, indem sie während des Zeitraumes von Oktober 1941 bis März 1944 im Ghetto Rybnitsa wohnen musste und dort von November 1941 bis März 1944 auf den Feldern als landwirtschaftliche Arbeiterin für den Judenrat des Ghettos Rybnitsa gearbeitet hat. Fußend auf diesen Angaben hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 09.01.2013 und durch Erklärung der Sitzungsvertreterin im Verhandlungstermin des Senats erklärt, dass sie bei der Verstorbenen folgende glaubhaft gemachte Beitrags- und Ersatzzeiten in der deutschen Rentenversicherung berücksichtigen kann: Die Zeit vom 30.08.1941 bis zum 31.10.1941 als Ersatzzeit nach § 250 Absatz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI), die Zeit vom 01.11.1941 bis zum 18.03.1941 als Beitragszeit nach § 1 ZRBG und die Zeit vom 19.03.1944 bis zum 31.12.1949 als Ersatzzeit nach § 250 Absatz 1 Nr. 4 SGB VI.
Nach ihrer im März 1944 erfolgten Befreiung lebte die Verstorbene bis zum 30.01.1990 in der Sowjetunion und wanderte von dort nach Israel aus, wo sie bis zu ihrem Tod am 17.11.2006 als israelische Staatsangehörige lebte. Nach Auskunft der israelischen Nationalversicherungsanstalt hat die Verstorbene dort keine Beitragszeiten zurückgelegt, nachdem sie nach dem dortigen gesetzlichen Versicherungsalter in Israel eingewandert war; sie hat daher auch keinen Anspruch auf eine Leistung nach dem israelischen Sozialversicherungsgesetz gehabt (Auskünfte der israelischen Nationalversicherungsanstalt vom 15.01.2015 und 22.02.2015).
Mit Schreiben vom 23.10.2002 (Eingang bei der Beklagten am 04.11.2002) beantragte der Bevollmächtigte des Klägers, den auch die Verstorbene bevollmächtigt hatte, für die Verstorbene, ihr aufgrund einer Tätigkeit im Ghetto mit Entgeltleistungen eine Regelaltersrente ab dem 01.07.1997 aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung der...