Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Exoskelett als Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich
Orientierungssatz
Ein Exoskelett, das als orthopädisches Hilfsmittel die Funktion der Beine ersetzt und ein selbstständiges Gehen und Stehen ermöglicht, dient dem unmittelbaren Behinderungsausgleich.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 23.07.2019 geändert und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 04.10.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 29.3.2017 verurteilt, den Kläger mit einer Re-Walk Orthese (elektronisches Orthesensystem: Exoskelett "ReWalk Personal 6.0") zu versorgen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Exoskelett-Orthese "ReWalk Personal 6.0" (fortan: Exoskelett Re-Walk) als Sachleistung.
Bei dem streitgegenständlichen Exoskelett Re-Walk handelt es sich um ein auf seinen Nutzer anpassbares Serienprodukt mit CE-Zertifizierung. Seit dem 20.12.2017 wird es im Hilfsmittelverzeichnis geführt. Das von außen anzulegende, per Klettverschluss zu befestigende System mit Batterie und Sensoren wird individuell auf Körpergröße (maximal 1,90 m), Gewicht (maximal 100 kg) und Nutzermerkmale eingestellt. Zur Nutzung des Hilfsmittels werden zusätzlich Unterarmstützen benötigt. Die Bordelektronik und Software des Exoskeletts erkennen für den Anwender definierte Parameter und Gangzyklen sowie davon abweichende Störungen. Der Anwender geht sitzend von einem feststehenden Stuhl in die Orthese. Die Füße werden auf eine Einlage im Schuh gestellt. Das Sprunggelenk bleibt mittels eines unilateralen Fußhebergelenkes, welches am Unterschenkelmodul angebracht ist, beweglich. Der Rumpf wird auf beiden Seiten abgestützt. Die Systemteile sind mit motorisierten Knie- und Hüftgelenken ausgestattet. Durch Computer- und Bewegungssensoren wird das Exoskelett gesteuert. Motorisierte Beine sorgen für die Bewegung von Knie und Hüfte. Das Hilfsmittel wird durch Wahl der gewünschten Tätigkeit (z.B. Sitzen, Stehen, Gehen, Hinaufgehen, Hinuntergehen) auf der - wie eine Uhr zu tragende - Fernbedienung, eine Veränderung des Körperschwerpunktes und eine Vor- bzw. Rückwärtsbewegung der Unterarmgehstützen gesteuert. Bei der Wahl beispielsweise des Gehens wird die den Bewegungsprozess auslösende Vorwärtsneigung des Oberkörpers durch das System erkannt und löst rechts den ersten Schritt aus. Werden die Unterarmgehstützen dann nach vorne bewegt, geht das linke Bein vor, sodass eine Schrittfolge in Gang gesetzt werden kann. Hört der Anwender auf, die Unterarmgehstützen zu bewegen, stoppt das Hilfsmittel den Gang. Das Exoskelett Re-Walk ist akkubetrieben. Der Akku hat eine durchschnittliche Laufzeit von 4 Stunden, eine vollständige Wiederaufladung dauert 7 Stunden hat. Ein Ersatz Akku kann mitgeführt werden. Zu den weiteren Merkmalen des Hilfsmittels wird auf das Benutzerhandbuch und die Produktbeschreibung des Herstellers sowie die in den Akten befindliche Demo-CD verwiesen.
Der 1990 geborene und bei der Beklagten seit dem 1.1.2015 gegen Krankheit versicherte Kläger erlitt im Jahre 2010 einen Verkehrsunfall mit Schädelhirntrauma, traumatischer Bauchaortenruptur und multiplen Rippen- und Wirbelfrakturen. Der Kläger leidet in Folge dessen an einer inkompletten sensomotorischen Querschnittslähmung (d.h. die Oberflächensensibilität ist mäßig erhalten, der Kläger kann Schmerz, Vibration und Temperatur empfinden) mit funktionslosen Beinen und Bewegungsunfähigkeit der unteren Gliedmaßen sowie einer Allgemeinbeeinträchtigung nach multipler Wirbel- und Rückenmarksschädigung. Die zunächst vorhandene Inkontinenz hat sich weitgehend zurückgebildet. Es besteht ein Z.n. Lungenembolie und Aorten-Stent-Implantation. Dem Kläger wurden ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen H, G, aG und B zuerkannt.
Der Kläger arbeitet in Teilzeit als Sachbearbeiter bei der Bundeswehr. Er lebt mit seiner Ehefrau in einer barrierefreien Wohnung. In der Ebene und im freien Raum ist er mit einem Aktiv-Rollstuhl ("T-light") mobil. Mit seinem Steh-Rollstuhl ("Lifestand") kann der Kläger eine vertikale Position einnehmen, sich aber nicht im Stand fortbewegen. Er benutzt das Hilfsmittel 1-2-mal pro Woche für ein 30-minütiges Stehtraining. Mit seinem - seiner Erkrankung baulich angepassten - Kfz ist der Kläger in der Lage, selbständig zu fahren.
Im Februar 2015 beantragte der Kläger erstmals die Versorgung mit einem Ekoskelett Re-Walk. Er fügte neben einer ärztlichen Verordnung u.a. einen Arztbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Rehabilitation Dr. C, Ambulante Neurologische Rehabilitationsklinik (NRK) B vom 28.11.2014 bei. Darin gab Dr. C an, durch das Exoskelett Re-Walk werde die Stand- und Gehfähigkeit wiederhergestellt, die Knochendichte erhöht, das Herz gestärkt, Muskelspastiken und Sturzgefahr verringert ...